Augsburg und der unberechenbare Kunde
Heterogen, sparsam, aber qualitätsbewusst: Die bayerische Stadt Augsburg gilt als Testmarkt für Deutschland. Was hier als Konzept getestet wird, soll angeblich in der ganzen Republik funktionieren. Aber was macht den Augsburger Einkäufer so besonders?
"Mein Name ist Markus Epple. Ich bin Geschäftsführer der Beratungsgesellschaft 'Markt und Standort'. Wir sind hier in der 'City Galerie'. Das ist das Einkaufszentrum von Augsburg. Und auch für die Region Augsburg. Ist ein wichtiger Player im Gesamtsystem."
Der Marktforscher Markus Epple steht vor einer H&M-Filiale und beobachtet die Kunden. Aus seiner Sicht ist das hier nicht irgendein Shopping-Standort in Deutschland. Sondern die deutsche Stadt, für die aus Sicht von Handels-Unternehmen der alte Frank-Sinatra-Satz gelte: "If I can make it there – I can make it anywhere."
"Augsburg ist eine grundsätzlich sehr interessante Stadt für den Einzelhandel. Es ist Testmarkt für viele Kunden. Es hat eine heterogene Struktur. Was als Konzept in Augsburg getestet wird und funktioniert, wird als 'roll-out' für die ganze Republik funktionieren."
Roll out – das bezeichnet in der Fachsprache des Großhandels die Markteinführung eines neuen Produktes oder Geschäftsmodells. Wenn etwa das bayerische Start-up-Unternehmen "my muesli" in dieser Woche eine neue Filiale in Kiel eröffnet, dann fließen die Erfahrungen aus Augsburg in das Shop-Konzept ein. Denn der klassische Augsburger Kunde ist ein sparsamer Schwabe – und damit typisch deutsch.
"Wenn Sie in einer sparsamen Region, die auch auf Qualität achtet, und die nicht so 'tratscht', ein Produkt platzieren können oder einen Shop, dann wird es einfach in den Metropolen. Dann wird es möglicherweise auch einfacher im ländlichen Raum. Und Augsburg ist nun mal durch seine Struktur in der Region auch ländlich geprägt. Da kommen Kundschaften von außerhalb, die sonst in einer Gemeinde mit 5000 Einwohnern wohnen. Die bringen auch eine andere Mentalität mit. Und wenn Sie das schaffen, dieses Publikum zu knacken, dann funktioniert das in allen anderen Oberzentren, die in der Regel offener und leichter zu begeistern sind, natürlich auch."
Markus Epple deutet diskret auf ein älteres Ehepaar, das - vollbepackt mit Tüten – aus einem Kleidergeschäft tritt. Er trägt Hut und Holzfällerhemd, sie eine beigefarbene Bluse unter der Multifunktionsjacke.
"Das ist so ein typisches Ehepaar für den Augsburger Raum. Also eher bieder. Das ist nicht negativ besetzt, eher im Sinne von: 'Wir wollen gar nicht auffallen.' Hier zeigt man nicht nach außen, was man an Vermögen hat. Das ist Understatement. Das kann durchaus sein, wenn wir jetzt mal gucken, wo die hingehen, dass er ein Eterna-Hemd kauft und dann aber auf der anderen Seite im Bodyshop noch ein Exklusiv-Produkt mitnimmt. Und danach ein Döner isst. Weil, das macht man hier in Augsburg. Das ist eine türkisch geprägte Stadt. Warum soll ich da nicht einen Döner essen?"
Wir machen die Probe aufs Exempel und sprechen das typische Augsburger Pärchen an. Erste Frage: Kommen Sie tatsächlich aus Augsburg?
"Augsburg Land. 15 Kilometer von Augsburg weg."
"Kommen Sie oft nach Augsburg zum Shoppen?"
"Ja, es ist die nächstgrößere Stadt in der Umgebung. Das Angebot ist da. Es isch halt unsere Stadt. München ist zu weit. Ulm auch."
Schuhe, ein Radiogerät und eine Multifunktionsjacke
Ein Blick in die drei Einkaufstüten des Frührentner-Pärchens: ein paar Deichmann-Schuhe, ein digitales Radiogerät und eine neue Multifunktionsjacke – in dunkelblau.
"Man kauft halt Kleidung. Aber wenig. Nicht so oft. Man geht einfach mal durch. Man schaut. Man isst was. Man bummelt durch Augsburg. Wir holen uns das Stadtflair. Es ist, wie soll ich's ausdrücken? Es isch koi Großstadt, aber es isch nah dran."
Und dann die wichtigste, die alles entscheidende Frage: zufrieden mit dem Preis-Leistungs-Verhältnis? Die Dame nickt. In Augsburg könne man günstig einkaufen. Das sei auch kein Wunder:
"In Augsburg gibt’s keine zahlungskräftigen Kunden. Die haben nicht so viel Geld, die Augsburger."
Erstaunlich – schließlich ist Augsburg doch die Heimatstadt der Fugger, jenes steinreichen, schwäbischen Kaufmannsgeschlechts des Mittelalters. Doch das ist lange her. Heute ist Augsburg die ärmste Großstadt in Bayern, erklärt der Leiter des städtischen Sozialreferats, Stefan Kiefer:
"Das liegt an der soziologischen Zusammensetzung und an der Herkunft. Augsburg ist eine klassische Industriestadt. Für Leute außerhalb Bayerns manchmal verwunderlich: Augsburg ist mit Nürnberg das industrielle Zentrum in Bayern. Und wir haben hier immer viele Fabrik-Arbeitsplätze gehabt. Dadurch wiederum eine hohe Zuwanderung aus Gastarbeiterländern, wie man das damals nannte. Viel Migrations-Hintergrund, niedrige Löhne. Das spiegelt sich wiederum im Steueraufkommen der Stadt wieder – und so schließt sich der Kreis."
Von den reichen Fuggern ist in Augsburg die Fugger-Kapelle St. Anna übriggeblieben – und die Fuggerei: die älteste bestehende Sozialsiedlung der Welt. Ohne die Fuggerei sähe es im sozialen Wohnungsbau der Stadt heute noch düsterer aus, sagt Sozialreferent Kiefer.
"Da haben wir die besten Zeiten hinter uns. Wir hatten in Augsburg schon mal 20.000 Sozialwohnungen – also preisgebundene Wohnungen. Heute sind's noch 6000, und die Zahl sinkt. Wir versuchen gegenzusteuern – mit unseren Möglichkeiten. Die Wohnungsbaugesellschaft der Stadt baut. Jedes Jahr 100 Wohnungen haben wir vorgegeben. Aber bei 100.000 Mietwohnungen in Augsburg kann man sich ausrechnen, dass das der berühmte Tropfen auf den heißen Stein ist."
Augsburg ist heute also keine reiche Stadt mehr – wenn man sie mi anderen bayerischen Städten vergleicht. Misst man Augsburg allerdings an Wuppertal, Chemnitz oder Saarbrücken, ist die 276.000-Einwohner-Stadt wohlhabend. So gut betucht, dass Augsburg viel Geld für die Stadtgestaltung und den Einzelhandel ausgeben kann. Das Baureferat etwa wollte das städtische Theater für sage und schreibe 235 Millionen Euro renovieren. Das führte in der Schwaben-Metropole zu einem Aufstand, das Projekt wurde eingedampft. Saniert hat die Kommune dagegen den Königsplatz am Rande der Altstadt.
Hier, nahe des Augsburger Doms, bringen Straßenbahnen aus allen Himmelsrichtungen zehntausende Einkaufsbummler und Shoppingtouristen in die Flaniermeile Annastraße.
"Wir haben eine unheimlich schöne Stadt. Viele tolle Geschäfte."
"Eine saubere Stadt, ja. Sieht man überall. Schön breit zum Flanieren."
"Durch diese Verkehrsberuhigung, also nur noch öffentliche Verkehrsmittel, passt es schon. Was will man mehr?"
Zwischen Systemgastronomie und Markenshops
Was will man mehr? Die klassische deutsche Einkaufsstraßen-Mischung: H&M, C&A, K&L, Dean&David, Douglas, McDonald's, Fielmann, Esprit und Sausalitos. Eine Kette nach der anderen. Die Stadt am Lech ist weder avantgardistisch noch anachronistisch. Sie ist perfekter deutscher Durchschnitt. Dass man durch Augsburg schlendert und nicht etwa durch Würzburg, merkt man erst beim Blick auf den Dom. Den gibt's nur einmal. In den Straßen dagegen: Systemgastronomie und Markenshops. Wer genau hinschaut, entdeckt hier und da ein paar wenige, alteingesessene Traditionsgeschäfte: Goldschmiede Werner, Uhrmacher Hörl, Trachtenmoden Scherer. Viele sind nicht übriggeblieben. Und die, die noch da sind, klagen über zu wenig Kundschaft. Über zu viele Online-Shopper. Der Einzelhandel sei tot, sagen sie.
"Also mich gibt's jetzt seit 17 Jahren, und ich hab natürlich ganz viele Geschäfte kommen und gehen sehen. Viele alteingesessene Geschäfte haben die Stadt leider verlassen müssen."
"Es ist natürlich schade, wenn die Innenstadt kaputt geht, weil die Leute nur noch online einkaufen."
"Die Geschäfte werden aussterben, die Stadt wird tot werden. Dann muss ich im Internet kaufen. Weil dann hab ich niemanden mehr, der mich berät. Ich hab keine Auswahl mehr."
"Ich konnt's überleben, weil ich so gute Kunden hab. Das ist halt die Voraussetzung. Aber das ist auch das spannende für die Leute, die vielleicht sagen: Das Internet ist so schön bequem, ich brauch mich nicht zu bewegen. Aber man verpasst so vieles."
In einem Werbespot der Stadtmarketing-Gesellschaft "City Initiative Augsburg" könnte man fast den Eindruck gewinnen, der Umsatz im Online-Geschäft habe den des Einzelhandels längst überholt. Dabei macht Internet-Shopping in Deutschland bisher gerade mal zehn Prozent des gesamten Umsatzes aus. Damit dieser Prozentsatz möglichst niedrig bleibt, denkt sich Heinz Stinglwagner immer neue Aktionen aus. Der Geschäftsführer der "City Initiative Augsburg" hat Ende November gerade erst wieder eine Shopping Night in der Augsburger Innenstadt veranstaltet.
"Das hat sich inzwischen rumgesprochen. Nicht nur bei den Augsburgern, sondern auch bei den Gästen aus dem Umland, die wir natürlich herzlich willkommen heißen. Die pilgern extra nach Augsburg und sind überrascht, was hier so los ist. Die lassen sich einfangen von der Atmosphäre, mal ganz relaxed shoppen gehen, bummeln gehen. Keine Hektik. Bis 24 Uhr."
Hektik entsteht bei der Augsburger Shopping Night höchstens für jene Ladenbesitzer, die sich immer neue Aktionen ausdenken, um Kunden anzulocken und zu binden. Die Weihnachtsdekoration scheint in diesem Jahr alle Rekorde brechen zu wollen. Licht-Stroboskope, schimmernde Sterne und zentimeterdicker Kunstschnee in allen Schaufenstern. Sogar am türkischen Dönerladen klettern Weihnachtsmänner aus rotem Glitzerstoff die Fassade hinauf. Und über allem klingt aus unsichtbaren Lautsprechern wie aus einer nicht enden wollenden Tonschleife der Weihnachts-Klassiker: Last Christmas.
"Wir sind darauf geprägt. Wir erwarten das ja. Natürlich nervt es uns. Spätestens nach drei Tagen nerven die Lieder im Radio. Aber wir erwarten, wenn wir irgendwo hingehen und uns wohlfühlen sollen, dass es saisonal passt. Herbst-Deko, Frühlings-Deko, Sommer-Deko und jetzt natürlich Weihnachts-Deko. Es ist verkaufsfördernd. Sie generieren ein Ambiente des Wohlfühlens. Das macht jeder Händler. Der Händler, der es nicht macht, macht einen großen Fehler. Weil er die Emotionalisierung von Produkten verpasst. Emotionalisierung ist verkaufsfördernd."
Fehlende Emotionalisierung kann man den Augsburger Händlern wahrlich nicht vorwerfen. Rund um den Weihnachtsmarkt – einen der größten in Bayern – kehren sie auch das letzte bisschen Feststimmung hervor.
"Das ist ja mein Credo. Ich sag immer zu den Händlern und Gastronomen: Macht nicht nur auf, macht auch etwas in Euren Läden, vor Euren Läden, mit Euren Läden. Das dringt auch langsam durch. Es gibt überall Aktionen. Ob das Live-Kochen ist, Modenschauen, Live-Musik in den Häusern. Das ist das, was ich will: Nicht nur den Laden öffnen, sondern mehr bieten. Service bieten. Für den Kunden da sein."
Der Kunde – um ihn scheint sich im Augsburger Einzelhandel alles zu drehen. Aber wer ist er eigentlich, dieser Augsburger Durchschnitts -Kunde, hinter dem angeblich Tester und Marktforscher aus ganz Deutschland her sind? Ist es das Rentner-Ehepaar mit den Multifunktionsjacken aus der City-Galerie? Oder ist es das junge Pärchen mit den Nike-Sneakern und den G-Star-Hoodies in der Einkaufspassage?
"Wir kaufen alles, was uns gefällt, würde ich sagen."
"Na ja, bei den Schuhen schaust Du schon auf die Marke, aber sonst eher nicht. Ich denk mir halt: Warum so viel Geld ausgeben, wenn man's auch billiger kriegt?"
Wenn man Markus Epple glaubt, dem Kundenforscher von der Beratungsgesellschaft "Markt und Standort", dann ist der Durchschnitts-Käufer, dieser Otto Normalverbraucher früherer Tage, irgendwann in den 90er Jahren ausgestorben.
"Früher war's einfach. Ich hab 10.000 Personen befragt, und dann wusste ich: Ich hab sieben Klassen von Käufern. Der ganz günstige, der ganz teure. Der, der auf Qualität Wert legt. Das ist heute nicht mehr, das kann ich nicht mehr. Ich kann keine Clusterung mehr durchführen in der Form, wie wir das früher hatten. Da war die Welt noch einfach, heute ist sie komplexer. Das merken wir an uns selber. Heute ist der Kunde multi-optional, wie es so schön heißt. Er kann beim Discounter kaufen. Oder im Fachgeschäft. Oder im Feinkostladen."
In der Fachwelt des Groß- und Einzelhandels spricht man vom hybriden Kunden. Er fährt im teuren SUV in die Parkgarage, springt kurz zum Aldi rein, um französischen Rotwein zu kaufen. Dort nimmt er auch noch den billigen Camembert mit, nur um kurz später beim benachbarten maitre fromager affineur den teuren Ziegenkäse im Holzkohlemantel zu erstehen. Dieser hybride Käufer handelt unvorhersehbar. Er wechselt von kik zu Kenzo und von H&M zu Hugo Boss. Markus Epple spricht gar vom gestörten Kunden:
"Wir verhalten uns als Verbraucher nicht normal, sondern schon manchmal sehr schizophren. Das macht uns ja aus. Klar können wir vorclustern und sagen: wir haben bestimmte Gruppen, die schon noch ablesbar sind. Aber das Verhalten dieser Gruppen ist extrem heterogen. Es ist nicht konsistent. Auch nicht in diesen speziellen Gruppen wie etwa den LOHAS."
Was steckt hinter den LOHAS?
LOHAS – das ist Marktforscher-Slang für "lifestyle of health and sustainability", sprich Kunden, die einen gesunden und nachhaltigen Lebensstil pflegen. In Augsburg ist das LOHAS-Phänomen besonders stark verankert. Kein Zufall, dass gerade hier die "Gero Gode Unternehmensgesellschaft" ihren Sitz hat. Der Augsburger Gero Gode betreibt die Online-Plattform www.biodeals.de. Diese Domain sei – so der Start-up-Unternehmer vollmundig - Deutschlands erste Seite für Bio- und Fairtrade-Rabatte. Gode will mit biodeals "zur größten Bio-Bewegung im aufstrebenden Biomarkt Deutschlands werden". Sein Business-Konzept mit Bio-Schnäppchenjagd und Fairtrade-Rabattschlacht klingt aber eher so, als wolle Gode vor allem schnell viel Geld verdienen. Von Augsburg aus hat er sein Konzept inzwischen auf 30 Städte ausgedehnt. Kernzielgruppe: LOHAS. In der Community wird Biodeals skeptisch beäugt. Eine "Mogelpackung" sei das, warnt ein Bio-Fan auf Facebook. Dabei blieben auch LOHAS nicht immer ihren Idealen treu, sagt Marktforscher Markus Epple. Er beobachtet häufig, dass nachhaltigkeitsbewusste Konsumenten im Coffee Shop einen Bio-Fair-Trade-Kaffee bestellten und ihn dann to go im umweltschädlichen Plastikbecher tränken.
"Heute kauf ich bei meinem Einzelhändler um die Ecke und sag: Das ist schön, den will ich ja auch erhalten, ist praktisch, so einen Nachbarschaftsladen zu haben. Und wie oft kaufe ich da ein? Zweimal in der Woche. Davon kann der nicht leben. Und gleichzeitig kauf ich auf der grünen Wiese im Mega-Supermarkt mit 10.000 Quadratmetern Verkaufsfläche. Weil da ist toll, da krieg ich jedes Produkt. Diese Sprünge innerhalb des persönlichen Kaufverhaltens – das ist die Schizophrenie, die in uns Verbrauchern steckt."
Keine Zahl verdeutlicht dieses Käuferverhalten besser als jene, die der erfolgreiche Jungunternehmer Hubertus Bessau fast nebenbei erwähnt:
"560 Billiarden tatsächlich – eine Zahl, die wir bisher nicht so richtig greifbar machen konnten."
"Wir" – das sind die drei Gründer des bayerischen Start-up-Unternehmens "my muesli". Und die 560 Billiarden – eine Zahl mit 17 Nullen – stehen für die Anzahl der möglichen Müslisorten, die sich Kunden von "my muesli" zusammenstellen können. Im Online-Shop oder in einer von 37 Filialen, die die Jungunternehmer aus Passau mittlerweile eröffnet haben.
"Das wird immer individueller. Das sieht man zum Beispiel daran, wie schnell sich momentan Diät-Trends ändern. Wieviel da parallel passiert. Früher gab's FDH und low carb oder so. Aber heute gibt's alles mögliche: von Paleo-Diäten bis hin zu völlig abgefahrenen Dingen, die ich selbst noch nicht gehört hab. Aber jeder kann sich heutzutage ernähren, wie er will. Das Angebot ist unendlich groß."
Im "my muesli"-Laden in Augsburg kann der Kunde aus fast 100 Zutaten wählen – von A wie Ananas bis Z wie Zwerghirse. Das ergibt dann die 560 Billiarden Möglichkeiten, die manche Käufer mit Begeisterung und andere mit kopfschüttelnder Überforderung quittieren. Zwei Kunden, 200 Wünsche – sagt eine Verkäuferin halb belustigt, halb resigniert. Hubertus Bessau lacht.
"Wir haben tatsächlich auch Probleme, den Kunden zu finden. Weil ich auch der Meinung bin: Es gibt nicht diesen einen, speziellen Kunden. Sondern auch ein- und dieselbe Person isst mal das eine Müsli und mal das andere. Wir versuchen dann eher, auf Produkt-Ebene zu clustern. Wenn wir neue Produktsorten entwickeln, dann schauen wir in unsere Datenbank: was haben denn eigentlich unsere Kunden so zusammengemischt? Und da finden wir dann eben – wenn wir ein neues Beerenmüsli entwickeln wollen –, wie häufig bestimmte Beeren mit bestimmten Nüssen oder Crunchy-Sorten kombiniert wurden."
Ohne Datenbanken, ohne "big data", ist der Kunde von heute nicht mehr zu fassen. Je mehr Informationen ein Unternehmen über die Gewohnheiten des potentiellen Käufers sammelt – desto größer die Erfolgs-Chance. Unternehmen wie "my muesli" sammeln Daten vor allem online. Die Firma ist heute ein Multi-Channel-Network, das seine Produkte auf sämtlichen Vertriebs-Ebenen verkauft. Deshalb haben Einzelhändler, die nicht im Internet vertreten sind, keine Chance. In Augsburg versucht die Stadt den kleinen Läden dadurch zu helfen, dass sie eine gemeinsame Online-Shopping-Plattform eingerichtet hat. Vermarktet wird diese Homepage unter dem Slogan "Lass den Klick in Deiner Stadt".
"'Lass den Klick in Deiner Stadt' ist ein digitaler Marktplatz, in dem sich jeder Händler, Gastronom, Dienstleister in der Innenstadt von Augsburg einbringen kann. Die Plattform stellt ihm die Möglichkeit zur Verfügung, sich regional zu präsentieren. Eigentlich sogar weltweit, aber primär ist es als regionaler Marktplatz gedacht. Wenn ich also 20 Kilometer von Augsburg entfernt wohne und schlechtes Wetter und Glatteis ist – aber ich brauche ganz dringend den Pulli XY bei 'Jack&Jones' - dann kann ich zu Amazon klicken. Tja. Wenn mir aber der 'Jack&Jones'-Laden hier in der City Galerie gefällt, weil da der Verkäufer nett ist oder die Verkäuferin mir schöne Augen macht, dann hab ich schon eine Kundenbindung – die brauche ich! – und dann will ich dem den Umsatz zukommen lassen. Und dann hab ich die Möglichkeit, mich bei dem reinzuklicken und zu sagen: Genau bei dem bestelle ich jetzt den Pulli. Und dann krieg ich den geliefert."
Eine clevere Idee – die Augsburg allerdings nicht erfunden hat. Andere Städte wie Karlsruhe oder Ulm haben das Konzept schon früher umgesetzt. Augsburg ist selten Vorreiter, sondern auch hier guter deutscher Durchschnitt. Ist die Stadt zwischen München und Stuttgart wirklich ein Testmarkt? Spielt die Stadt bei der Markt-Einführung neuer Produkte und Shop-Konzepte wirklich eine Schlüsselrolle? Der Wirtschaftsgeograf Thomas David von der Universität Augsburg behauptet:
"… dass in den letzten Jahrzehnten einige Marktforschungs-Institute bzw. einige Unternehmen explizit in Augsburg ihre Sortimente getestet haben. Beispielsweise gab's in Augsburg ein Kaufhaus, das eine spezielle Abteilung hatte, wo neue Produkte und Sortimente getestet wurden. Und wenn sie hier funktionierten, dann erst hat man sie deutschlandweit in die Geschäfte gehängt."
Die drei wichtigsten Einkaufs-Motive
Thomas David bezieht sich mit seiner Angabe explizit auf das Marktforschungs-Institut "sociogramma". Dessen Geschäftsführer will allerdings nicht bestätigen, dass Augsburg ein Testmarkt sei. Auch sei sein Institut vor mehr als zehn Jahren auch nicht deshalb von München nach Augsburg gezogen. Dafür hätten andere Gründe eine Rolle gespielt. Auch ist die Anzahl der Marktforschungs-Institute in Augsburg im Verhältnis zur Einwohnerzahl nicht höher als etwa in der Region Nürnberg. Bei unseren Recherchen fand sich auch kein größeres Handels-Unternehmen, das offiziell bestätigen wollte, derzeit in Augsburg Produkte zu testen. Was es in Augsburg dagegen gibt, ist das jährliche Martini-Treffen: eine Fachtagung von 120 Marktforschern und Wissenschaftlern.
Hier, in einem Tagungsgebäude in Augsburg, examinieren Einzelhandels-Spezialisten Ende November den "unberechenbaren Kunden". Sie wollen herausfinden, wie das paradoxe Einkaufsverhalten der heutigen Käuferschichten die Konsumlandschaft verändert. Und wie die Standort-Entwicklung darauf reagieren kann. Markus Hilpert, Wirtschaftsgeograf der Universität Augsburg, nennt die drei wichtigsten Einkaufs-Motive:
"Preis, Bequemlichkeit und Erlebnis. Beim Thema Preis können die Innenstädte nicht mit dem Online-Handel mithalten. Beim Thema Bequemlichkeit kann man einiges machen, dass die Städte einfacher zu erreichen sind. Dass man schneller und günstiger einen Parkplatz findet. Aber die größte Chance für Innenstädte ist natürlich im Bereich Erlebnis. Da braucht es Ärzte, Bildungs-Angebote und Kultur-Angebote."
All das bringt Augsburg mit – und dennoch tut sich die Stadt schwer, hat der Wirtschaftsgeograf Tomas David in einer empirischen Studie festgestellt:
"Augsburg hat im Vergleich zu anderen Oberzentren wie Nürnberg oder Ulm eine vergleichsweise geringe Passanten-Frequenz. Anders gesagt: Es kommen für die Größe der Stadt Augsburg noch vergleichsweise wenig Menschen in die Stadt."
Der Konsumforscher David hat festgestellt, dass 40 Prozent aller Personen, die die Augsburger Innenstadt besuchen, hier auch einkaufen. Eigentlich kein schlechter Wert. Allerdings ist die Zahl der Besucher in den letzten Jahren gesunken. Und das, obwohl Augsburg viel Geld in den Ausbau der Innenstadt investiert hat. Dieses Problem kennen viele deutsche Städte. Der Hauptgrund: das Internet.
"Der Online-Handel macht natürlich das Kaufverhalten insgesamt undurchsichtiger. Weil ein Einzelhändler heutzutage nicht mehr weiß, wann ich was stationär und wann ich was online kaufe. Durch die Möglichkeiten des Multichannels, also dass ich Online- und Offline-Handel kombiniere, kann der Einzelhandel wieder auf diese Individualisierung reagieren. Der Online-Konsum sollte kein Feind sein, sondern sollte als Freund betrachtet werden. Denn auch der stationäre Einzelhändler kann durch die Nutzung der Internet-Kanäle jene Konsumenten erreichen, die er vorher nicht erreicht hat. Das hinzubekommen, ist heute die große Kunst und die Chance des Einzelhandels generell."
Das ist leichter gesagt als getan. Manche Händler in Augsburg experimentieren mit sogenannten show rooms. Also kleinen Läden, in denen der Kunde ein bestimmtes Produkt erleben kann - perfekt ausgeleuchtet, beduftet und präsentiert wie ein Juwel. Er kann die Designerlampe, den Luxussessel, das technische Gerät anfassen, es ausprobieren. Direkt kaufen kann er es nicht - nur bestellen. Es wird ihm geliefert. Der Einzelhändler spart sich dadurch Lagerungs- und Mietkosten in der teuren Innenstadt. Der Kunde dagegen kann Bequemlichkeit mit Erlebnis kombinieren. Also die Vorteile des Onlinehandels mit einem Einkaufsbummel verbinden, sagt Marktforscher Markus Epple.
"Handel ist Wandel. Der Händler erfindet sich ja ständig neu. Das, was wir früher gesehen haben, vor zehn Jahren, das klassische Fachmarktzentrum auf der grünen Wiese – das wird es so in Zukunft nicht mehr geben. Das mag vielleicht in bestimmten Regionen, wo die Käuferschicht genauso passt, noch funktionieren. Aber in den größeren Städten, da wird es wieder ein Konglomerat geben. Wir werden Mini-Städte, 'Markt-Plätze' erhalten. Und auch die werden unterschiedlich belegt sein, mit unterschiedlichen Marken, unterschiedlichen Kaufkräften. Und auch mit ganz unterschiedlichen Umsätzen."
Den Kunden zu dieser neuen Einkaufswelt – in Augsburg könne man ihn schon jetzt erleben, behauptet Marktforscher Markus Epple. Dieser Kunde sei nicht arm und nicht reich. Er sei jung und alt gleichzeitig. Markenfetischist und Schnäppchenjäger in einer Person. Und er verbinde Sparsamkeit mit Qualitätsanspruch. Er ist der Schwabe in jedem von uns.