Teures Pflaster

Von Michael Frantzen |
Addiert der Bürger die Kosten für Strom, Gas, Wasser und Müll, dann kann er erstaunt feststellen: München mag zwar die Stadt mit der höchsten Lebensqualität in Deutschland sein, aber Mönchengladbach liegt bei den Lebenshaltungskosten weit vor der Stadt an der Isar - nämlich auf Platz 1.
Marmann: "Man kann sagen, dass die Bereiche Strom, Gas, Wasser unsere Ertragsbringer sind."

Bude: "Müllgebühren war immer ein hoch sensibles Thema in dieser Stadt."
Sasserath: "Man hat es auch im Grunde nach hier mit ner extremen Marktgläubligkeit zu tun."

Schmitz: "Im Grunde, so wie’s jetzt läuft, läuft’s sehr gut"."
Von wegen! Nicole Mühle hebt die Hände. Lief schon mal besser bei ihr. Die 33-Jährige ist arbeitslos, länger schon. Hartz IV. Die Hoffnung, dass sie in absehbarer Zeit einen Job ergattern könnte: Kann sie wohl begraben. Meint die zierliche Frau resignierend.

Dabei könnte sie zusätzliches Geld gut gebrauchen. Letztens ist ihr eine Nachzahlung ihres Strom- und Gasanbieters – der NVV – ins Haus geflattert: 160 Euro.

Mühle: ""Hab ich mich schon gefragt: Wie? Ich bin kaum zu Hause. Ich bin normalerweise auch viel draußen unterwegs und so. Da frag ich mich, wie datt zu Stande kommt? Wodurch? Wie sie sehen: Ich hab jetzt nicht hier nen Riesen-Computer rumstehen. Oder irgendwas anderes, was großartig Strom frisst."

Teures Pflaster – dieses Mönchengladbach. Nirgendwo sonst in Deutschland müssen die Leute so viel für Strom, Gas, Wasser und Müll ausgeben wie in der Stadt am Niederrhein, die immer noch ein bisschen vom Nimbus zehrt, dass hier einmal ein Günter Netzer aus der "Tiefe des Raums" vorstieß – und Borussia Mönchengladbach zur Meisterschaft führte.

Lange her. Die Borussia dümpelt auf einem Abstiegsplatz vor sich hin. Schlecht fürs Image. Genau wie die Bildschlagzeile letztes Jahr: "Mönchengladbach – die teuerste Stadt der Republik!" Hat Helmut Marmann, der Pressesprecher der NVV, auch gelesen; in seinem großzügigen Büro im vierten Stock der Firmenzentrale – einer grauen 80er-Jahre-Trutzburg, wie es sie in Westdeutschland zu Hauf gibt.

Hat seine Laune nicht gerade gehoben. Gab es wieder ein paar wütende Anrufe einiger seiner 180.000 Kunden, die wissen wollten, warum denn nun ausgerechnet sie "Premium" zahlen müssten. Unangenehm. Aber ist er schon gewohnt – die Anrufe.

Marmann: "Das war natürlich auch immer für die Kommunikation ein schwieriges Thema – in den vergangenen Jahren: Die gerade aktuelle Entwicklung im Gasbereich zu verkaufen. Wir sind letztendlich auch bei unserer Preisgestaltung eigentlich auch abhängig von den Einkaufspreisen unserer Vorlieferanten. Aber der Wettbewerbsmarkt zeigt ja auch dann wieder im Hinblick auf die Kündigungszahlen: Unsere Preise sind auf jeden Fall so wettbewerbsfähig, dass wir im Vergleich im bundesweiten Wettbewerb relativ wenig Kunden im Strombereich und auch im Gasbereich verloren haben."

Von Helmut Marmanns Büro sind es Luftlinie gut ein, vielleicht anderthalb Kilometer bis zur Dependance der Verbraucherzentrale in Mönchengladbach. Alles eine Spur kleiner hier. In Uschi Winecks Zimmer passt gerade einmal ein Schreibtisch – plus Regal und zwei Stühle für Besucher, die bei ihr Rat suchen, wie sie denn ihre Ausgaben für Strom und Gas senken können. Und was sie tun müssen, um den Anbieter zu wechseln. Gar nicht so einfach. In Mönchengladbach.

Wineck: "Beim Gas hatten wir lange Zeit nur eine einzige Alternative zum örtlichen Versorger. Also, Mönchengladbach scheint da von meiner Wahrnehmung her auch so bisschen nen weißer Fleck zu sein. Ich weiß von den Kollegen aus dem Ruhrgebiet, dass da schon ne viel größere Auswahl bei der Gasversorgung ist als wir sie hier haben. Im Prinzip könnte das Angebot hier genauso dicht sein wie anderswo auch. Nur man muss bedenken: Diese Anbieter sind ja teilweise auch neu auf dem Markt. Und die suchen sich natürlich auch Bereiche aus, wo ich ne relativ hohe Dichte hab, um auch erst Mal ne gewisse Anzahl von Kunden zu haben, um zu sehen: Rechnet sich das Geschäft?"

Schlechte Karten für Mönchengladbach. Schrumpft nämlich – die Stadt. Die Einwohnerzahl ist auf 260.000 gesunken. Von denen sind immer mehr auf staatliche Unterstützung angewiesen. 250 Millionen Euro gibt die Kommune jährlich allein für Sozialleistungen aus. Können sie sich eigentlich gar nicht leisten. Mönchengladbach ist pleite. Über eine Milliarde Euro Schulden, im aktuellen Haushalt klafft ein Loch von 114 Millionen Euro.

Schlechte Karten für Norbert Bude. Der SPD-Politiker ist seit Oktober 2004 Oberbürgermeister, dieses Jahr will er wieder gewählt werden. Könnte schwierig werden. Vor fünf Jahren – da stellte die CDU, von der es früher hieß, sie könne am schwarzen Niederrhein auch einen Besenstil als Kandidaten aufstellen, der dann gewählt würde - stellten die Christdemokraten nach internen Querelen einen farblosen Hinterbänkler auf, der gegen den alerten Bude alt aussah. Jetzt hat er es mit einem populären CDU-Landtagsabgeordneten zu tun.

Aber wird schon. Meint der OB – der von sich sagt, er sei "Berufsoptimist". Als solcher spekuliert er jetzt erst einmal darauf, dass im Rahmen des Konjunkturpakets II auch für seine Stadt ein paar Millionen herausspringen.

Könnten sie ganz gut gebrauchen. In Mönchengladbach. Denn die kommunalen Einnahmen sprudeln nur noch spärlich.

Bude: "Bisher war es stets so, dass wir mit den Einnahmen aus dem Energie- und Abwasserbereich, aber insbesondere immer aus dem Energiebereich, auch die Kosten der sogenannten Stadtsparte – also Busverkehr, Bäder – haben abdecken müssen. Aber auch da werden die Zeiten schwieriger. Die Einnahmemargen im Energiegeschäft sinken. Und wir müssen aufpassen, dass wir in den nächsten Jahren nicht erleben werden, dass wir durch diese Einnahmen unsere notwendigen Ausgaben im ÖPNV nicht mehr decken können."

Strom, Gas, Wasser, öffentlicher Nahverkehr, die städtischen Bäder – in Mönchengladbach ist das alles unter dem Dach der NVV untergebracht. Die Aktiengesellschaft gehört zur Hälfte der Stadt, die restlichen 50 Prozent sind in Besitz des Energieriesen RWE, der die NVV mit seinem üblichen Mix aus Braunkohle- und Atomstrom versorgt. Erneuerbare Energien – haben sie es nicht so mit – bei der NVV. Zwei winzige Photovoltaikanlagen – viel mehr ist nicht. Erklärt der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stadtrat, Karl Sasserath.

Sasserath: "Im Grunde genommen kann man auch sagen, dass die Stadt wirtschaftlich in nem starken Maße von der RWE beeinflusst wird. Man muss sich ja überlegen: RWE verkauft Gas und Strom, ist aber im Grunde nach in den Aufsichtsräten vertreten, wo es also auch um die sogenannte Stadtsparte geht. Und man muss schlichtweg sehen: Die Stadt ist auf die Einnahmen aus Strom und Gas angewiesen, um zum Beispiel den Busverkehr aufrechtzuerhalten. Und da sind vielleicht auch die Ursachen zu sehen, warum wenig Interesse besteht, auf die Strom- und Gaspreise Einfluss zu nehmen."

Nicht nur bei Strom und Gas ist Mönchengladbach Spitze. Auch bei der Müllentsorgung werden die Einwohner kräftig zur Kasse gebeten. Über 400 Euro muss ein durchschnittlicher Vierpersonen-Haushalt pro Jahr hinblättern.

"Gemeinsam für eine saubere Stadt" – mit diesem Slogan wirbt der lokale Müllentsorger: Die "GEM". Auch so ein Gewächs der "public-private-partnership", wie die Liaison von Vater Staat und Privatwirtschaft neudeutsch genannt wird. Anteilseigner sind jeweils zur Hälfte die Stadt und die private "Entsorgungsgesellschaft Niederrhein".

Klappt "super" – die Kooperation. Zumindest, wenn man Pressesprecherin Jutta Schmitz Glauben schenken darf. So und so alles "super" bei der GEM. Kümmern sich ja auch nicht nur darum, dass jährlich 120.000 Tonnen Müll entsorgt werden; sondern auch um die: Straßenreinigung, die Schadstoffsammlung, den Winterdienst auf den Straßen, ja, und "Müll-Unterricht" an den Schulen machen sie auch noch. Ist doch "super". Jutta Schmitz, der man wohl nicht zu nahe tritt, wenn man sie eine rheinische Frohnatur nennt – die GEM-Frau kommt richtig ins Schwärmen. Hat für alles eine Erklärung – die Anfang 40-Jährige. Auch für die 400 Euro.

Schmitz: "Die Müllgebühren werden von der Stadt Mönchengladbach festgelegt. Das ist nicht unser Thema. Wir haben nur den Vertrag mit der Stadt Mönchengladbach. Und das ist auch ein langfristiger Vertrag. Der geht über mehrere Jahre. Denn so ne Stadt muss sich ja auch absichern. Da sind auch Dinge drin wie die Papiermengen. Das war auch in der Diskussion im vergangenen Jahr: Da war der Papierpreis mal sehr hoch. Das heißt, es wurde ne kurze Zeit lang sehr viel Geld für Papier erwirtschaftet. Da wollten dann auf einmal die Bürger, dass die Gebühren reduziert werden. Das geht natürlich nicht von heut auf morgen."

Mit Müll hat Nicole Mühle auch schon so ihre Erfahrungen gemacht. Ihre Wohnung liegt in der Altstadt. Paterre, das Wohnzimmer war früher mal ein Ladenlokal. Dementsprechend groß ist die Fensterfront samt Fenstersims; dementsprechend groß die Versuchung für einige Kneipenbummler, am Wochenende hier ihre halbaufgegessenen Döner liegen zu lassen oder leere Bierflaschen.

Ist aber schon besser geworden. Seitdem Kneipen wie das "John Bull" und Gogo-Bars wie das "Bienenkörbchen" direkt um die Ecke dicht gemacht haben. Haben halt alle weniger Geld. In Mönchengladbach. Wann Nicole Mühle das letzte Mal einen Trinken war – kann sie sich nicht mehr dran erinnern. Muss eine halbe Ewigkeit her sein. Und so führt die 33jährige ein Leben auf Sparflamme – im wahrsten Sinne des Wortes.

Mühle: "Die einzige Heizung, die hier eigentlich an ist, ist im Wohnzimmer. Ansonsten sind ja alle Heizungen aus. Ich hab Küche Heizung, in hab in der Diele ne Heizung, im Badezimmer, Schlafzimmer – die Heizungen sind alle aus. Ich seh ja bei meiner Mutter, was die immer nachzahlen muss. Ich weiß, ich kann’s mir einfach auch nicht leisten."

Mehr als 2400 Euro im Jahr muss eine durchschnittliche Familie mit zwei Kindern für Strom und Gas in Mönchengladbach ausgeben. 2417 Euro und 96 Cent – um genau zu sein. Uschi Wineck von der Verbraucherzentrale kann einem das exakt ausrechnen. Zu ihr kommen in der letzten Zeit immer mehr Ratsuchende, denen die hohen Strom- und Gaspreise zu schaffen machen.

Wineck: "Das sind nicht die klassischen Sozialhilfehaushalte, sondern das sind so diese Haushalte, wo alles wunderbar seinen Gang geht, aber am letzten des Monats auch nichts mehr da ist. Und für die würde das wirklich katastrophale Ausmaße annehmen, wenn die sagen: 'Wenn das so weiter geht, kann ich das nicht mehr bedienen. Wo soll ich da bitte noch sparen?' Und ich den sagen muss: Sie können nirgendwo mehr sparen."

Großartig gegensteuern, wie Uschi Wineck das gerne sehen würde, können sie in Mönchengladbach nicht. Einfach so die Preise senken oder Sozialtarife einführen – dazu fehlt es in der Stadt nicht nur an politischen Willen und Mehrheiten, sondern auch an Einflussmöglichkeiten.

Sasserath: "Im Grunde nach zeigt sich daran so ne neoliberale Sichtweise: Viele Dinge zu privatisieren. Im Grunde nach ist es diese Struktur, die dazu geführt hat, dass die Stadt politisch gesehen in vielen Bereichen die Steuerungsfähigkeit verliert. Das sind closed shops. Wo auch immer wieder die Argumentation der Aufsichtsratmitglieder, die aus dem Rat entsandt werden, kommt: Das, was da geschieht, unterliegt der Nicht-Öffentlichkeit. Wir sind dem Unternehmensziel, der unternehmerischen Prosperität der NVV oder GEM verpflichtet."

"Ein Skandal" – findet der Grünen-Mann Sasserath. "Ein Stück Normalität im Deutschland des 21. Jahrhunderts" – findet der Oberbürgermeister. Doch so ganz scheint Bude dem Braten nicht mehr zu trauen – dem Neoliberalen. Sieht nämlich neuerdings "Handlungsbedarf" - der OB - bei der Müllentsorgung.
Bude: "Hier bin ich sehr dafür, dass wir diesen Bereich wieder komplett zurück in die Verwaltung holen. Hintergrund ist, dass der Vertrag mit unserer Firma läuft aus. Und wenn wir ihn europaweit dann ausschreiben müssten, hätten wir keine Chance dort beteiligt zu bleiben. Das heißt, aufgrund der Tarifstruktur unserer Mitarbeiter in dem Bereich würden wir in einer Ausschreibung nie eine Chance haben gegenüber privaten Entsorgungsfirmen gewinnen zu können. Deswegen arbeiten wir daran, wir führen Gespräche, Verhandlungen, ob wir nicht daraus eine 100-prozentige städtische Tochter machen können."

Bei Strom und Gas dagegen soll alles beim Alten bleiben. Da sind sich der OB und die Mehrheit im Rat einig. Gut für die RWE, schlecht für die Kunden der NVV, die wohl auch in Zukunft "Premium" zahlen müssen. Aber sind ja in guter Gesellschaft.
Wineck: "Wenn wir jetzt rein weg über die Energiekosten reden, dann ist das, denke ich, nicht nur ein Phänomen in Mönchengladbach, sondern für mich ist es dann nen Massenphänomen. Weil im europäischen Vergleich haben wir halt sehr hohe Kosten. Ich denke, es ist nach meiner Wahrnehmung hier zumindest anders als im europäischen Ausland, was ich so kenne, wo die Liberalität einfach ne größere ist. Da war von vorhinein mehr Action auf dem Markt."

Action – die täte eigentlich auch Nicole Mühle ganz gut. Meint sie lakonisch. Ein bisschen Abwechslung, ein neuer Job, irgendetwas.

Sieht schlecht aus. Nächstes Jahr machen die britischen Streitkräfte ihr Nato-Hauptquartier für Westeuropa im Stadtteil Rheindalen dicht. Fallen auf einen Schlag tausend Arbeitsplätze im zivilen Bereich weg. Schlechte Karten für Mönchengladbach. Und Nicole Mühle.

Mühle: "Natürlich ist es knapp. Mein Freund bekommt Hartz IV, ich bekomm Hartz IV. Letztendlich hab ich im Monat circa 230, 240 Euro. Mehr als Lebensmittel is da nich drin."

Ihre Heizung im Wohnzimmer will Nicole Mühle möglichst bald abdrehen – wenn es die Witterung zulässt. Armes Mönchengladbach.