Holpriger Start eines globalen Bündnisses
Es geht um eine faire Bezahlung in der globalen Textilindustrie. Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft haben einen ambitionierten Plan entworfen - allerdings besteht die Branche aus einem komplizierten Netzwerk, Firmen entziehen sich ihrer Verantwortung. Gelingt es dennoch, bessere Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie durchsetzen?
Modenschau im Nobelhotel Adlon, schräg gegenüber dem Brandenburger Tor. Der Ballsaal ist voll. Auf dem Laufsteg präsentieren Models beim Greenshowroom Outfits Dutzender Marken.
Bei Mode denken viele Menschen an Models wie Kate Moss oder Gisele Bündchen, Stardesigner wie Coco Chanel und Karl Lagerfeld oder Schnäppchen bei Primark, H&M oder Zara. Manche assoziieren Mode dagegen mit Trümmern und Toten. Sandra Dusch Silva, Mitarbeiterin der NGO Christliche Initiative Romero, ist so jemand. Sie bekommt noch heute eine Gänsehaut, wenn sie an den Zusammensturz des Gebäudekomplexes Rana Plaza in Bangladesch denkt.
Sandra Dusch Silva: "Das war schockierend, weil man auch erst mal nicht weiß, wie man darauf reagieren soll, auf der einen Seite schockierend, wenn man sich vorstellt, dass es so absehbar war, dass es passiert. Also man konfrontiert Unternehmen damit, dass es da Probleme gibt, dass die Audits nicht funktionieren, man macht Studien dazu, man schickt sie, man hat Gespräche und es ändert sich nichts. Das ist so, ja das ist frustrierend, wenn man dann so eine Nachricht liest, dass so viele Menschen sterben und leiden müssen, bevor es wahrgenommen wird."
Bei dem Unglück im April 2013 starben 1138 Menschen. Die Bilder der Leichen neben den Modelabeln gruben sich ins kollektive Gedächtnis ein. Ein öffentlicher Aufschrei ging um die Welt. Für Aktivisten kam die Katastrophe allerdings nicht überraschend. Schon seit 25 Jahren prangert die Kampagne für saubere Kleidung Missstände in den Textilfabriken im Süden an.
Plakat prangert die Hungerlöhne an
Zu dem Bündnis von 300 Organisationen aus 16 Ländern gehört auch die Christliche Initiative Romero. Sie hat ihr Büro in einem schmucklosen Plattenbau im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain. An der Wand hängt ein Plakat mit dem Konterfei des Namensgebers. Erzbischof Óscar Romero machte sich für die Rechte Armer stark und wurde 1980 in El Salvador von einer Todesschwadron vor dem Altar ermordet. Ein anderes Plakat prangert die Hungerlöhne in der Textilindustrie an.
Sandra Dusch Silva: "Ja, also die Christliche Initiative Romero möchte die Stimmlosen unterstützen, sie möchte denen eine Stimme geben, die keine haben und heutzutage haben ganz viele, die unsere Konsumgüter herstellen, keine Stimme und für sie wollen wir uns solidarisch zeigen."
60 Millionen Beschäftigte produzieren laut der Internationalen Arbeitsorganisation weltweit Textilien, Bekleidung und Schuhe- und dies unter miserablen Bedingungen. Fast im Wochentakt gibt es Meldungen über Unfälle, Todesfälle oder Streiks. Dass der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller das Thema der Produktionsbedingungen von Bekleidung im April 2014 auf die politische Agenda holte, liegt auch an dem Druck den Initiativen wie "Romero" im Laufe der Jahre aufgebaut haben.
Gerd Müller: "Wir haben heute einen Tisch angestoßen, einen runden Tisch der deutschen Textilwirtschaft, wo wir dieses Thema aufarbeiten müssen. In Würde leben, die Menschen, die für uns produzieren, sei es in den Plantagen auf den Feldern Afrikas oder Lateinamerikas oder in den Textilwerkstätten brauchen ihr faires Auskommen. Wir leben hier im Wohlstand, hier auf dem Rücken dieser Menschen, und das müssen wir ändern. Das ist eine Bewusstseinsänderung."
Sagte der CSU-Politiker bei einer Veranstaltung in Berlin. Er forderte vor allem existenzsichernde Löhne und sichere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten, vom Baumwollpflücker bis zur Näherin und drohte mit Gesetzen falls sich die Mode- und Textilriesen weigern sollten. Das waren neue Töne der Bundesregierung. Hat der Minister Wort gehalten? Was ist aus dem ambitionierten Plan geworden, den Müller vergangenen April angekündigte?
Es begann erfolgversprechend. Zahlreiche Verbände, Unternehmen und NGOs folgen der Einladung Müllers zum runden Tisch. Anschließend trat Müller im Foyer des Ministeriums vor die Presse:
Gerd Müller: "Wir sind im Bekleidungs- und Textilbereich in der Kette, ich würde mal sagen, da, wo wir im Lebensmittelbereich vor zehn oder 15 oder 20 Jahren waren. Es ist gelungen im Lebensmittelbereich, die Gesamtkette auf verbindliche Standards festzulegen und die Kontrolle zu garantieren, wenn sie beispielsweise an das Biosiegel denken. Und ich denke einen ähnlichen Ehrgeiz sollten wir auch im Textilbereich haben."
Vertretern von Adidas, Aldi & Co. verhandeln mit Aktivisten
Reinhard Göhner, Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband der deutschen Arbeitgeber, teilte das Anliegen des Ministers.
Reinhard Göhner: "Viele Initiativen, die heute mit am Tisch gesessen haben, ob TÜV oder Kampagne für saubere Kleidung, haben Gedanken geäußert, die auch wir als Vertreter der Wirtschaft für wichtig halten, um zu erreichen, dass unsere gemeinsame Zielsetzung, soziale Mindeststandards zur Grundlage solcher Netzwerke oder Lieferketten zu machen, auch in der Praxis zu realisieren."
Skeptisch beobachtete Uwe Kekeritz, Bundestagsabgeordneter der Grünen, das Geschehen.
Uwe Kekeritz: "Ich weiß, das die NGO-Szene, die Nichtregierungsorganisationen, das als eine Chance ansahen, einmal voranzukommen, insofern haben wir natürlich auch diese Bewegung unterstützt und gesagt. Gut, Müller, Minister Müller, wenn Du das machen willst, dann geh voran, ja, wir werden dich dann allerdings anhand deines Ergebnisses messen."
In vier Arbeitsgruppen diskutierten Vertreter von Konzernen wie Adidas, Aldi, KIK mit Aktivisten von der Kampagne für saubere Kleidung, mit Kämpfern für den fairen Handel oder mit Greenpeace. Der TÜV war auch dabei. Man sprach über Mindestanforderungen, über Kontrollen und über Stärken und Schwächen bestehender Siegel.
Wer trägt die Verantwortung für die mangelhaften Arbeitsbedingungen in den Fabriken Südostasiens? Was bringen die bisherigen freiwilligen Maßnahmen und Kontrollen der Unternehmen und des Handels? Brauchen wir neue Gesetze?
Textilfabriken öffnen ihre Tore nicht für Journalisten
Rushour. Nichts geht mehr auf der Schnellstraße von Delhi nach Gurgaon, einer 30 Kilometer entfernten Satellitenstadt mit 600.000 Einwohnern. Nach zwei Stunden biegt der Wagen in ein Industriegebiet ab und hält vor dem Fabrikgebäude von Ganga Enterprises. Auf vier Etagen arbeiten in dem Gebäude rund fünfhundert Menschen.
Zwei Arbeiter rollen Stoffballen auf und beschweren sie mit Gewichten, schneiden einzelne Lagen mit einer großen Schere ab. Ein anderer Arbeiter zeichnet mit Kreide auf einer dicken Lage Stoffe die Vorderseite eines T-Shirts auf.
Ein Kollege - mit einem metallenen Schutzhandschuh - sägt mit einer kreischenden Bandsäge entlang der Kreidelinie.
Wer sich als Journalist Textilfabriken in Südostasien anschauen will, steht oft vor geschlossenen Toren. Die Fabrikanten sind misstrauisch. Helfen kann Ganga Sharma. Der Ingenieur leitet das zehnköpfige Team des TÜV Rheinland, das indische Fabriken auf die Einhaltung von Sozialstandards prüft. Er kennt den Fabrikbesitzer. Anil Tibrewal, salopp gekleidet mit hellbrauner Baumwollhose, schwarzem Polohemd und Mokassins, findet klare Worte für seine Stellung in der Textilkette.
Anil Tibrewal: "Wissen Sie, ich bin ein Vogel im Dschungel. Ob ich lebe oder sterbe interessiert niemanden."
Der Fabrikant schildert einen gnadenlosen Konkurrenzkampf der Zulieferer, um die Gunst der westlichen Auftraggeber. Alleine der US-Handelskonzern Walmart habe mehr als 65.000 verschiedene Zulieferer für Bekleidung. Es gebe nur einen einzigen Grund, warum die Konzerne Textilien in Südostasien fertigen ließen, sagt Tibrewal.
Anil Tibrewal: "Europäische Kunden kaufen bei uns wegen der billigen Arbeit."
Im Eingangsflur der Fabrik hängen Titelseiten von alten Zeitungen. Sie berichten von Weltereignissen: etwas der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der USA oder vom Fall der Mauer 1989. Damals hatte Tibrewal gerade seine erste Fabrik eröffnet, mit einem Auftrag des schwedischen Modekonzerns H&M und einem 2000-Dollar-Kredit einer Bank in der Tasche.
Anil Tribewal: "Ich war neu im Geschäft und kannte mich nicht aus. Ich ging zur Bank, um einen 4000-Dollar Auftrag vorzufinanzieren. Ich fragte nach einem 2000 Dollar Kredit."
Auftragsschwemme aus dem Norden
Er war einer von vielen, die von der Auftragsschwemme aus dem Norden profitieren wollten und erlebte seitdem die drastischen Umwälzungen des Marktes.
Bereits seit Ende der 1960er-Jahren hatten Textilfirmen aus den westlichen Industrieländern ihre Produktion in den Süden verlagert. Nach dem Fall des Eisernen Vorhang 1989 beschleunigte sich der Prozess. Bela Galgoczi, Forscher am Europäischen Institut für Gewerkschaften, spricht von einer einmaligen Situation.
Bela Galgoczi: "Das waren die Zeiten als eine enorm hohe Zahl von Arbeitnehmern aus Billiglohnländern wurden in die Weltwirtschaft integriert. Früher gab es eine Isolierung und plötzlich eine Öffnung und Zugang. In Europa war das auf jeden Fall Mittelosteuropa, aber dann China und Südostasien und das insgesamt - gut, kann man unterschiedlich kalkulieren, aber sind ca. 700 Millionen Arbeitskräfte. Das hieß, die Produktion Textil und auch Clothing hat weitläufig die Hochlohnländer verlassen."
Zunächst dürften die Entwicklungsländer nur in begrenztem Umfang Kleidung in die Industrieländer exportieren. Es galten Quoten. Als die Quoten 2004 ausliefen, war kein Halten mehr. Jetzt verlagerten viele Firmen ihre Textilherstellung komplett in die Billiglohnländer. Für die Menschen im Süden war das eigentlich ein Segen. Denn dort wurden dringend neue Arbeitsplätze für die wachsende Bevölkerung benötigt, zumal viele Menschen auf dem Land ihre Existenzgrundlage verloren und in die Städte drängten – bis heute.
Menschen wie Mamter. Die 28-Jährige, in einem traditionellen Sari gekleidet und mit einem kleinen goldenen Nasenohrring, stammt aus einem mehr als tausend Kilometer entfernten Dorf im Bundesstaat Madja Pradesh. Bei Ganga Enterprises kontrolliert sie die Qualität der Kleidungsstücke und säubert sie, beispielsweise von Fadenresten. In einem Nebenraum kann man ungestört reden. Ein Radio läuft. Als Übersetzer hilft Sharma, der als Auditor regelmäßig mit Arbeitern vertrauliche Gespräche führt.
76 Euro monatlich auf die Hand ausgezahlt
Ein Jahr und zwei Monate arbeitet sie hier in der Fabrik. Gewöhnlich kommt sie um 9.30 Uhr morgens und arbeitet bis 18 Uhr, sechs Tage die Woche. Vorher habe sie in einer Maschinenfabrik gearbeitet, hier in der Textilfabrik findet sie die Arbeitsbedingungen besser. Nein, Sie habe keine sexuellen Belästigungen erlebt, wie sie in anderen Fabriken oft an der Tagesordnung seien. Im Management gebe es eine Ansprechpartnerin für die Frauen, falls Probleme auftauchen. Das findet sie gut. Weniger gut findet sie die Lohnhöhe. 5800 Rupien, 76 Euro, bekommt sie jeden Monat auf die Hand ausgezahlt. Es sei schwierig damit die Ausgaben für Miete, Lebensmittel, Kleidung und das Schulgeld für ihren beiden Jungen zu decken. Noch schwieriger sei es, Geld zu sparen, um ein kleines Geschäft in ihrem Heimatdorf zu eröffnen, wo bis heute ihr Mann lebt und arbeitet – mehr als tausend Kilometer entfernt.
Alun kommt ähnlich weit her wie seine Kollegin, aus der Provinz Bihar.
Er habe als Lehrer an einer Behindertenschule gearbeitet, bis die Provinzregierung in Bihar die Gelder strich. Der Familienvater fand als Lehrer keinen neuen Job und wurde Arbeiter. Mit seiner Frau und seinen drei Kindern zog er vor fünf Jahren hierher. Er etikettiert Stoffteile und verdient 6750 Rupien, 88 Euro, etwas mehr als den gesetzlichen Mindestlohn. Über die Runden komme seine Familie nur, weil seine Frau ebenfalls in einer solchen Exportfirma arbeite. Auf die Frage, was er täte, wenn er Fabrikchef wäre, sagt er, die Löhne erhöhen und eine Gewinnbeteiligung für die Beschäftigten einführen.
Asia Floor Wage, ein Bündnis asiatischer Gewerkschaften und NGOs, hält eine Vervierfachung des gesetzlichen Mindestlohns in Indien für notwendig. Letztlich geht es um die Frage, welchen Anteil die Lohnkosten am Gesamtpreis haben dürfen. Branchenexperten sprechen heute von acht bis 15 Cent bei einem T-Shirt. Warum zahlen die Unternehmer ihren Beschäftigten keine höheren Gehälter?
Der Textilunternehmer Anil Tribewal verweist auf die Verantwortung des Staats.
Der Textilunternehmer Anil Tribewal verweist auf die Verantwortung des Staats.
Die Regierung sollte Mindestlohn erhöhen
Anil Tribewal: "Die Regierung macht die Gesetze. Wir folgen der Politik. Entsprechend der Gesetze hat der Arbeitgeber die Beschäftigten zu bezahlen. Aber in einer arbeitsintensiven Branche ist es nicht möglich für die Unternehmer, sich um die Arbeitsbedingungen jedes einzelnen zu kümmern. Er lebt nicht auf einer Insel."
In die gleiche Kerbe schlägt der Textifabrikant Rajesh Rakheja.
Rajesh Rakheja: "Wir kennen die Preise in Indien. Ich weiß, wie schwierig es für sie ist ein gutes Leben mit dem Lohn zu führen, den wir zahlen. Und wenn sie mich fragen, was genau ich tun würde? Ich würde ihnen gerne die Löhne stärker erhöhen, damit sie ein besseres Leben führen können. Aber es gibt Grenzen. Und es gibt so etwas wie Preisdruck."
Beide Unternehmer beteuern, sie könnten aufgrund des harten Wettbewerbs nicht mehr zahlen als jetzt.
Rajesh Rakheja: "Die Regierung sollte über eine Erhöhung des Mindestlohns nachdenken."
Allerdings stecken die Regierungen selbst in einer Zwickmühle. Vier Fünftel der Exporte aus Bangladesch oder Kambodscha entfallen auf Textilien. Und die Fabriken lassen sich leicht verlagern, weil die Investitionen gering sind und fast nur angelernte Arbeiter benötigt werden. Schon wegen Centunterschieden wechseln Firmen Lieferanten, Länder oder Kontinente. Neuerdings sondieren Firmen Afrika. Aus Wettbewerbsgründen setzten viele Regierungen den Mindestlohn unter dem Existenzminimum fest.
Historisch betrachtet ist Ausbeutung von Beschäftigten in der Textilindustrie eher der Normalfall. Sabine Ferenschild von der NGO Südwind.
Sabine Ferenschild: "Man kann sagen, dass die Arbeitsbedingungen in dieser Boomzeit der frühen kapitalistischen Phase schon sehr vergleichbar zu den Arbeitsbedingungen waren, die wir heute in vielen Produzentenländern finden, also, das heißt überlange Arbeitszeiten, kaum Regulierung von Überstunden, fehlende Bezahlung von Überstunden, fehlende Mindestlöhne, Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz."
Die Textilindustrie besteht heute aus einem komplizierten Netzwerk. Es dient häufig als Ausrede für Firmen, um sich der Verantwortung zu entziehen. Und die Gesetzeslage lässt Unternehmern freie Hand. Deutsche Textilhändler und Modemarken können für die Arbeits- und Menschenrechtsverstößen bei ihren Lieferanten nicht haftbar gemacht werden.
In den 1970er-Jahren gab es schon Anläufe für globale Standards
Uwe Kekeritz: "Die können sich darauf berufen, das ist einfach ein Händler, ein Produzent, mit dem ich nichts zu tun habe. Der ist wirtschaftlich und rechtlich selbständig. Ich gehe dorthin, ich bestelle mir 5000 T-Shirts und der liefert 5000 T-Shirts. Ich bin nicht verantwortlich dafür, wie diese 5000 T-Shirts produziert werden. Und das ist meines Erachtens nicht in Ordnung. Denn die Unternehmer wissen sehr wohl wie die Produktionsverhältnisse vor Ort sind und sie ignorieren das einfach."
Kritisiert der grüne Bundestagsabgeordnete Uwe Kekeritz, der sich intensiv mit der Textilindustrie beschäftigt hat, ob in El Salvador oder Bangladesch.
Mit dem Moral and Health Act wollte die englische Regierung ausbeuterische Zustände in den Baumwoll- und Schafwollfabriken bereits 1802 beseitigen. Inspektoren durften nun jede Fabrik aufsuchen.
150 Jahre später, Mitte des 20. Jahrhunderts, waren die Arbeiter in den früh industrialisierten Ländern wie England oder Deutschland besser gestellt, dank gesetzlicher und tariflicher Errungenschaften wie der Fünftagewoche oder Urlaubs- und Krankengeld. Jetzt wanderte die Textilherstellung in Regionen ab, wo diese Errungenschaften eingespart wurden. In den 1970er-Jahren gab es einige Anläufe zu einer globalen Regulierung der Unternehmen durch die Vereinten Nationen, sie scheiterten jedoch allesamt. Seit den 1990er-Jahren vertraute die Politik dann darauf, dass die Wirtschaft es freiwillig besser macht. Firmen verpflichteten ihre Lieferanten auf die Einhaltung bestimmter Umwelt- und Arbeitsstandards bei der Produktion. Johannes Merck vom Versandhändler Otto.
Johannes Merck: "Das war so, dass wir seinerzeit einen Code of Conduct definiert haben, indem wir die ILO-Kernarbeitsnormen unseren Lieferanten sozusagen auferlegt haben, diese auch entsprechend einzuhalten. Eine NGO fand dann heraus, dass in der Türkei ein Lieferant sich daran nicht gehalten hat. Das war also sozusagen ein Skandal, dem wir dann nachgehen mussten. Und über diesen Prozess dann gelernt haben, dass eben das Festschreiben von Anforderungen nicht genügt, sondern, dass man in der Wertschöpfungskette eben auch kontrollieren und vor allen Dingen auch qualifizieren muss."
"BSCI ist für mich reines Greenwashing"
Otto gehörte 2003 zu den Initiatoren der Buisness Social Compliance Initiative, kurz B-S-C-I. Wer bei diesem Zusammenschluss von Unternehmen mitmacht, verpflichtet sich neben der freiwilligen Einhaltung von Standards, auch auf Kontrollen und Qualifizierungsmaßnahmen.
Johannes Merck: "Wir machen Wettbewerbs aber nicht auf Kosten der Menschen im Produktionsbetrieb. Deswegen verlangen wir alle gleichermaßen, dass der gleiche Standard entsprechend auch eingehalten wird."
Sandra Dusch Silva: "BSCI ist für mich reines Greenwashing, der Kodex hat zwar einige Aspekte, die wichtig sind, aber letztlich setzt er total auf Audits, auf Sozialkontrollen in den Fabriken und das ist eine Momentaufnahme, die letztlich nichts Strukturelles verändert."
Kritisiert dagegen die Aktivistin Dusch Silva, die ebenso wie Merck beim Textilbündnis mit am Tisch saß. Tatsächlich decken die freiwilligen Standards der Unternehmen nur einen Teil des Geschehens ab. Es gibt große Lücken.
Miriam Saage-Maaß: "Also sämtliche Fabriken in Rana Plaza wurden auditiert, verschiedentlich, von verschiedenen Unternehmen und wurden zertifiziert und offensichtlich ist denen allen nicht aufgefallen, dass das Gebäude kurz vor dem Zusammensturz ist... Und diese Auditunternehmen sind dafür aber auch überhaupt nicht in der Haftung für die Berichte, die sie schreiben, ob die wahr sind oder nicht wahr sind, sondern, die können einfach nur sagen, es war halt nur ein Bericht, ich musste keine Statik prüfen. Darum ist das nicht meine Schuld, wenn dieses Gebäude zusammenstürzt. Gleichzeitig sagen die Berichte ja auch, es gibt keine Kinderarbeit. Und man schaut sich die Opfer von Rana Plaza an und dann sind eine ganze Reihe von Frauen, die zum Zeitpunkt des Zusammensturzes definitiv Kinder waren und in dieser Fabrik gearbeitet haben."
Sagt die Völkerrechtlerin Miriam Saage-Maaß, Koordinatorin des Programms Wirtschaft und Menschenrechte beim European Center for Constituional and Human Rights. Angesichts solcher Lücken und Fehler wäre es in ihren Augen fatal, wenn Entwicklungshilfeminister Müller bei seinem Textilbündnis auf diese Standards bauen würde.
Miriam Saage-Maaß: "Und solange (...) das nicht angegangen wird, in welcher Haftung sind eigentlich diese Auditingunternehmen, also diese Prüfunternehmen für den Wahrheitsgehalt ihrer Prüfberichte. Solange das nicht passiert, darf man auf keinen Fall irgend eine Hoffnung auf das bestehende vermeintliche Sorgfaltspflichtprüfsystem setzen."
Jahrelang drängten NGOs die Modeunternehmen, auch die Aspekte Gebäudesicherheit und Statik in ihre Überprüfungen aufzunehmen. Erst nach der Katastrophe von Rana Plaza waren diverse Unternehmen dazu bereit. Zwei Abkommen wurden möglich. In deren Auftrag nahmen Kontrolleure die Fabriken aller ihrer Lieferanten in Bangladesch unter die Lupe. Sie fanden mehr als 80.000, teils gravierende Sicherheitsmängel, die jetzt behoben werden können. Trotz des Fortschritts liegt weiter viel im Argen.
Gisela Burckhardt: "Wenn sich die Gebäudesicherheit verändert, dann haben sich damit noch nicht die Arbeitsbedingungen verändert."
Sagt Gisela Burckhardt. Für die NGO Femnet, die sich für Frauenrechte einsetzt, hat sie am Runden Tisch teilgenommen. Burckhardt beschäftigt sich schon lange mit den Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie, zuletzt recherchierte sie für ihr Buch "Todschick" in Bangladesch.
Gisela Burckhardt: "Das heißt die Näherinnen schuften weiter, also machen Überstunden. Diese Überstunden müssen sie machen, weil sie viel zu wenig verdienen. Wir haben keine Gewerkschaftsfreiheit. Es ist für viele Gewerkschaften immer noch sehr gefährlich aktiv zu werden, die werden auch bedroht, richtig körperlich bedroht, zum Teil auch von sogenannten Schlägertrupps zusammengeschlagen, aktive Gewerkschafter. Alles das hat sich leider bisher noch nicht verbessert."
Angesicht der schwierigen Gemengelage in den Herstellerländern der Textilien mit Zwängen und Nöten von Regierungen, Unternehmern und Beschäftigten liegt der Schlüssel zur Lösung der Probleme offensichtlich größtenteils im Norden, also dort wo die Auftraggeber und Käufer der Waren sitzen. Deswegen war die Spannung groß, als Entwicklungshilfeminister Gerd Müller den Aktionsplan für das Textilbündnis präsentierte.
Fünf Monate hatten die Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft über die Idee beraten, die er im April 2014 öffentlich gemacht hatte.
Bundespressekonferenz: "Guten Morgen, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, herzlich Willkommen zu dieser Bundespressekonferenz."
Unterzeichner verpflichten sich zur Zahlung eines existenzsichernden Lohnes
Müller stellte einen 64-seitigen Aktionsplan vor. Er enthält detaillierte Vorgaben für das Spinnen, Weben, Stricken, ethische Geschäftspraktiken und Zeitziele. Vor allem sollen die Unterzeichner sich zur Zahlung eines existenzsichernden Lohnes verpflichten. Für Verbraucher soll ein neues Internetportal einen Überblick über geltende Textilsiegel bringen. Mit einem grünen Knopf sollen Unternehmen ausgezeichnet werden, die den Plan unterschreiben. Viele sind es nicht. Es sind Kleinere, die sich ohnehin als soziale und grüne Vorreiter profilieren wie Vaude, Trigema oder Hessnatur. Oppositionspolitiker Uwe Kekeritz.
Uwe Kekeritz: "Also der Handelsverband, der deutsche Handelsverband ist weg, der Außenhandelsverband ist weg, Otto-Gruppe, die ja immer auf Ökologie und soziale Verantwortung setzt, ist weg, und ja der Gesamtverband der Textil- und Modeindustrie ist auch weg. Ich weiß nicht, mit wem er diese Initiative vorantreiben will."
Auch Textilgrößen wie Adidas, der Textildiscounter KiK, H&M, Puma, C&A, die Otto Gruppe fehlen, genauso wie die Händler Aldi und Lidl. Allerdings bekunden einige hinter vorgehaltener Hand Interesse. Offen für eine Zusammenarbeit, aber unkonkret, äußert sich Jan Eggert vom Außenhandelsverband.
Jan Eggert: "Wir wollen das nicht als ein Scheitern des Bündnisses verstanden wissen und schon gar nicht als diejenigen, die es zum Scheitern gebracht haben. Dass muss jetzt der nächste Schritt sein, dass wir besprechen, unter welchen Bedingungen (...) können wir diesem Bündnis beitreten. Wir wollen dem Bündnis beitreten."
Für die Textilarbeiter ändert sich wenig
Aus anderen Gründen Verhalten klingt die Aktivistin Gisela Burckhardt
Gisela Burckhardt: "Also, das Textilbündnis, ist eben eine große Frage. Ich gehe schon davon aus, dass Teile des Handels vor allen Dingen, der größeren Handelsunternehmen dem Bündnis vielleicht dann doch noch mal beitreten werden. Wir müssen halt sehen, welche Abstriche die fordern und ob wir das dann auch noch mittragen können. Das ist natürlich auch noch die große Frage."
Bei dem Bündnis fehlen entscheidende Akteure und für die Textilarbeiter in Indien, Bangladesch oder Kambodscha ändert sich deswegen vorerst wenig. Das muss Minister Müller wohl als Niederlage verbuchen. Aber, wäre überhaupt etwas gewonnen, wenn alle Unternehmen, Händler und Verbände mitmachten? Die Wissenschaftlerin Simone Schiller-Merkens beschäftigt sich beim Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung mit neuen Märkten. Sie ist skeptisch und verweist auf die großen Interessengegensätze unter den Teilnehmern des Textilbündnisses.
Simone Schiller-Merkens: "Wenn ich mir jetzt die Partner anschaue, die bisher im Prozess des Textilsiegels beteiligt waren, wenn man sich die ansieht, dann sind eben das solch konträre Parteien, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es da zu einem strengen Siegel kommen wird."
Für alle Firmen müssen die gleichen Regeln gelten. Und diese Regeln sollten natürlich am besten weltweit, zumindest aber für die Europäische Union vereinbart werden. Deshalb ist ein nationaler Alleingang Deutschlands unsinnig – gerade bei Textilien. Wenn der Entwicklungshilfeminister wirklich etwas ändern will – wie im April 2014 angekündigt – dann muss er für neue gesetzliche Regeln bei der Herstellung von Kleidung werben, beispielsweise beim Treffen der größten sieben Industriestaaten, den sogenannten G7, im Juni auf dem bayerischen Schloss Elmau, bei dem auch das Thema Textilproduktion auf der Agenda stehen soll. Und hier sollte es vor allem um verbindliche Regeln gehen, findet Wissenschaftlerin Schiller-Merkens.
Simone Schiller-Merkens: "Letztlich geht das nur über Regulierung, also wenn es allgemeinverbindlich sein soll für die gesamte Industrie, dann kann das nur auf regulativer Ebene stattfinden, weil es natürlich wirtschaftliche Einbußen bedeutet, zunächst mal, für die Unternehmen."