"Kannibalismus" in der Berliner Kulturlandschaft
Der Vertrag von Frank Castorf sollte verlängert werden, sagt Joachim Lux, Intendant des Thalia Theaters in Hamburg. An der Volksbühne Berlin finde eine künstlerisch herausragende Arbeit statt. Zudem müsse die Diskussion um die Nachfolge Castorfs "Teil einer öffentlichen Debatte" werden.
Der Intendant des Thalia Theaters in Hamburg, Joachim Lux, hat sich in der Diskussion um die Zukunft der Volksbühne Berlin für eine Verlängerung des Vertrages des bisherigen Intendanten Frank Castorf ausgesprochen. An der Volksbühne Berlin finde künstlerisch herausragende und einzigartige Arbeit statt, sagte Lux im Deutschlandradio Kultur. In der Berliner Kulturlandschaft herrsche derzeit "ein wirkliches Chaos", kritisierte Lux. Gravierende Veränderungen dürften allerdings nicht der Entscheidung eines einzelnen Kulturstaatssekretärs überlassen werden. In dieser Diskussion gehe es nicht um die Person von Chris Dercon, der ein "hochrenommierter Ausstellungsmacher" sei, betonte Lux. Es gehe vielmehr darum, dass sich an der Volksbühne über Jahre ein "absolut singulärer künstlerischer Charakter" herausgebildet habe. Der werde nun "ohne Not und dadurch im Grunde mutwillig zerstört".
Das Gespräch im Wortlaut:
Susanne Burkhardt: Bislang wurde spekuliert, aber jetzt nimmt das Ganze Formen an. Chris Dercon also soll die Berliner Volksbühne übernehmen, und nicht nur das, mehr Geld soll es geben und dann noch einen Spielort dazu. Am 30. April vormittags, so hieß es heute, werde der Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner den Kurator der Tate Modern in London derzeit, Dercon also, als neuen Intendanten der Volksbühne vorstellen, und all die anderen Details ebenso.
Um diese Personalie gibt es seit Anfang April viel Aufregung, Theatermacher wie Claus Peymann oder Jürgen Flimm kritisieren die Pläne Renners scharf. Ihnen angeschlossen haben sich in einem offenen Brief drei Intendanten der großen Bühnen, Ulrich Khuon vom Deutschen Theater Berlin, Martin Kusej vom Residenztheater in München und Joachim Lux vom Thalia in Hamburg. Und mit ihm bin ich jetzt verbunden, schönen guten Abend, Herr Lux!
Joachim Lux: Guten Abend!
Burkhardt: In Ihrem offenen Brief an Tim Renner sprechen Sie von Zerstörung und von der Abwicklung der Volksbühne als Ensemble-, Literatur- und Repertoiretheater. Trauen Sie Chris Dercon mit einem künstlerischen Beraterstab, den er ja bekommen soll, keine Führung eines solchen Theaters zu?
Die Absicht ist klar: Das Ensembletheater soll aufgelöst werden
Lux: Ach, ich habe überhaupt nichts gegen die Person und auch nichts gegen die Personalie Chris Dercon, das ist ja ein hoch renommierter Ausstellungsmacher, darum geht es nicht.
Es geht darum, dass an der Volksbühne sich über Jahre ein absolut singulärer künstlerischer Charakter herausgebildet hat, und es geht darum, dass man das also ohne jede Not und dadurch im Grunde mutwillig zerstört. Und es geht darum, dass die kulturpolitischen Absichten ganz klar sind, nämlich dieses Ensembletheater aufzulösen.
Das ist völlig klar, egal was dann Gegenteiliges behauptet wird. Es wird ein freies Produktionshaus, vielleicht werden dann mal fünf Schauspieler eingeladen, da auch was zu machen, das kann man nicht ausschließen, aber der Charakter der Volksbühne, den es seit Jahrzehnten gibt, wird gravierend verändert.
Burkhardt: Berlin hat fünf große Sprechtheater. Was wäre denn so schlimm daran, wenn an der Volksbühne die freie Szene einen festen Platz bekäme?
Lux: Also, ich komme nicht auf fünf, ich komme erst mal darauf, dass – wenn wir ein bisschen in der Historie zurückgehen –, dass das Schiller-Theater aufgelöst worden ist, ich komme darauf, dass die Freie Volksbühne aufgelöst worden ist, und jetzt passiert das Gleiche mit der Volksbühne Ost. Sodass die verbleibenden Theater, also jedenfalls in meiner Zählung sind das im Wesentlichen das Berliner Ensemble, das Deutsche Theater und die Schaubühne ...
Burkhardt: Das Maxim Gorki Theater ...
In der Berliner Kulturlandschaft herrscht derzeit Chaos
Lux: Genau, das Gorki Theater ist aber schon eine sehr deutlich kleinere und speziellere Bühne, würde ich also nicht zu den großen Playern dazuzählen. Und die Volksbühne ist auch das einzige Theater mit einem so richtig großen Saal.
Wenn Sie sich angucken, dass in den beiden anderen großen Städten Deutschlands, also in Hamburg und München, es jeweils zwei große Theater gibt, dann ist es jedenfalls nicht nachvollziehbar, warum man das auflöst, das zum einen.
Zum anderen aber gibt es auch einfach ein Chaos, ein wirkliches Chaos in der Berliner Kulturlandschaft, denn wenn da mangelnde Absprachen zwischen Stadt und Bund offensichtlich sind, also nämlich gar keine Absprachen, dann kannibalisiert hier das eine das andere.
Es wäre sicher vernünftig, die Berliner Festspiele zu dem auszubauen, was beabsichtigt ist, nämlich eben zu einem solchen Ort für freie Produktionen, anstatt das jetzt vonseiten der Stadt zu kannibalisieren. Das finde ich einfach fahrlässig.
Burkhardt: Nach diesen neuen Informationen von heute plant Tim Renner, den Etat von 17 auf 22 Millionen zu erhöhen für die Volksbühne, fünf Millionen mehr also. Dazu soll Dercon dann auch Tempelhof als Spielort zusätzlich bekommen. Das klingt, als hätte sich das Matthias Lilienthal ausgedacht, er hat ja auch schon zum Abschied als Chef vom HAU Tempelhof groß bespielt. Was halten Sie von dieser Idee, ist eine Ausweitung nicht erst mal was Gutes?
Mehr Geld ist wunderbar - wenn es nicht in Struktur, sondern in die Kunst geht
Lux: Ja, wollte ich gerade sagen. Also, man muss mal ein bisschen vorsichtig sein. Wir beschweren uns immer, dass die Politik zu wenig Geld für Kultur ausgibt, jetzt tut sie es mal und man wirft es ihr dann auch wieder vor. Natürlich ist das erst mal begrüßenswert, ist doch wunderbar.
Es ist allerdings zu fürchten, dass das weitgehend in Struktur geht anstatt in Kunst. Weil, ich meine, den Flughafen Tempelhof zu bespielen, das ist ja nun keine kleine Aufgabe, wenn man an die Logistik und an die dafür notwendigen Techniken denkt.
Burkhardt: Fünf Millionen mehr, wo sonst um jeden Euro gezankt wird.
Lux: Ja.
Burkhardt: Was für ein Signal, Herr Lux, sendet denn der Kulturstaatssekretär damit an die anderen Berliner Bühnen?
Lux: Dann ist man mitten in der Gesamtdebatte. Also, überall wird gespart und der Kultursenator trifft die Entscheidung zu sagen, ich möchte, und das ist mir das Wichtigste überhaupt, eben ein solches freies Produktionshaus gründen, stärken auf Kosten der anderen.
Das ist ganz klar die Entscheidung. Und man muss auch einen Moment zumindest mal darüber nachdenken, dies alles geschieht ohne eine breite kulturpolitische Debatte. Also weder in der Politik noch in der Öffentlichkeit. Und dies alles geschieht in der Verantwortung einer Regierung oder der handelnden Personen jedenfalls, die gerade mal ein Jahr im Amt sind.
Und wenn ich recht unterrichtet bin, in gut einem Jahr sind schon wieder Wahlen. Also, es handelt sich um Personen, die hier gravierende Entscheidungen treffen, die möglicherweise überhaupt nur zwei Jahre in der Verantwortung sind und die Früchte dieser Verantwortung gar nicht mehr selber verantworten müssen. Denn Chris Dercon tritt 2017 an.
Burkhardt: Ja, der Kultursenator Michael Müller findet ja in der ganzen Diskussion mehr oder weniger gar nicht statt, der äußert sich dann höchstens mal, dass er doch schon öfter in der Oper war, und äußert sich zu Peymann, aber zu der ganzen Debatte nicht. Und die Proteste, Sie sagen es ja, die richten sich ja gegen dieses Handstreichartige, mit dem Tim Renner hier vorgeht.
25 Jahre sind genug, tschüss, Frank Castorf, dass er die Pläne nicht offen diskutiert hat. Aber was wäre denn aus Ihrer Sicht eine gute Lösung für die Volksbühne, angenommen, Frank Castorf würde sowieso mal gehen wollen? Irgendwann muss es ja eine Nachfolge geben.
Lux: Ja, mein Vorschlag im Moment ist unoriginell. Mein Vorschlag im Moment ist, da findet künstlerisch herausragende und singuläre Arbeit statt, die soll man verlängern bis, sagen wir, 2019, und im Laufe dieser Zeit – das ist immer so gewesen in der Kultur – entwickeln sich bestimmt Lösungen, die Kraft haben, die Entschiedenheit haben und die der Tradition der Volksbühne auch gerecht werden.
Burkhardt: Aber ist das jetzt zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch denkbar, ohne dass Tim Renner komplett sein Gesicht verliert, dass er jetzt sagt, gut, die haben alle protestiert, dann machen wir es halt doch anders? Castorf bleibt?
Lux: Ich könnte mir vorstellen, dass der Bund erhebliche Schwierigkeiten hat mit dem, was da jetzt Stunde um Stunde ans Tageslicht kommt. Und es geht auch perspektivisch um die Strukturen, in dem Fall kulturpolitischen Strukturen in der Stadt.
Burkhardt: Monika Grütters hat sich ja anfangs auch schon eingemischt und gesagt, also, wenn das dann so wird, dann braucht der Bund ja das Festspielhaus gar nicht mehr weiter mitzufinanzieren.
Lux: Ja.
Burkhardt: Also, Sie könnten sich vorstellen, dass der Bund jetzt noch mal stärker auf den Tisch haut?
Gravierende Änderungen darf nicht nur der Staatssekretär entscheiden
Lux: Das könnte ich mir vorstellen. Das, was ich jetzt vorhin Kannibalisierung genannt habe, findet ja statt, das ist ja zweifelsfrei. Und umgekehrt – das haben wir ja in dem offenen Brief auch geschrieben – ist es selbstverständlich völlig richtig, bestehende Strukturen zu diskutieren und auch infrage zu stellen. Also, man kann nicht einfach nur sagen, es muss alles immer so bleiben, wie es schon längstens war.
Nur, wenn man gravierend was verändert, dann, finde ich, ist das nicht die Entscheidung eines einzelnen Kulturstaatssekretärs, der sich das ein paar Monate lang überlegt hat, sondern das ist Teil einer öffentlichen Debatte. Wie lange und wie oft ist über den Neubau des Berliner Schlosses diskutiert worden! Das gehört nicht einfach nur hinter verschlossene Türen!
Burkhardt: Sagt der Intendant des Thalia Theaters Joachim Lux. Mit ihm sprach ich vor der Sendung. Und dabei erinnerten wir uns auch daran, dass es bei der Einsetzung von Frank Castorf vor mehr als zwei Jahrzehnten eine Findungskommission gab und ein Gutachten des Theaterwissenschaftlers Ivan Nagel, der sich stark machte für den noch jungen Regisseur. Merkwürdig, dass solche eigentlich doch selbstverständlichen Diskussionen und Formen der Entscheidungsfindung heute scheinbar nicht mehr ganz so angesagt sind. Jetzt kann nur noch der Bund in Gestalt von Kulturstaatsministerin Monika Grütters intervenieren, um befürchtete Doppelstrukturen für die Zukunft in der Stadt zu vermeiden. In der aktuellen "Zeit" wird sie dazu zitiert, mehr dazu am Ende der Sendung beim Blick in die Feuilletons!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.