"The Disorientalists" treten mit "Who was Essad Bey?" am Samstag, den 15. Dezember, um 20 Uhr im PANDA-Theater in der Knaackstr. 97 in Berlin auf.
Aus dem Versteck geholt
Der Publizist Essad Bey pflegte die Kunst der Verwandlung. Keine schlechte Tradition finden die Musiker von "The Disorientalists". Sie knüpfen daran an, um Beys verworrenen Lebensweg auf die Bühne zu bringen.
Diese Geschichte beginnt mit einem Buch. Es heißt "The Orientalist" und handelt von dem Schriftsteller Essad Bey. Geschrieben hat es der New Yorker Historiker und Bestsellerautor Tom Reiss. Für Yuriy Gurzhi, Mitbegründer der Russendisko und Kopf der Band Rotfront, war die akribisch recherchierte Biografie eine Offenbarung: "Ich habe es wirklich rein zufällig, damals in einem Buchladen in Zürich gefunden und fand das Foto auf der Titelseite einfach toll. Und ich war so fasziniert von dieser Geschichte, dass ich unbedingt irgendwas damit machen wollte."
Von Baku nach Berlin
Ein Mann mit Fez auf dem Kopf sitzt im Sessel vor einer Wüstenlandschaft, im Hintergrund sind ein Kamel mit Reiter und drei Jagdbomber am Himmel zu sehen. Eine surrealistische Zusammenstellung, die vom Inhalt des Buches aber mit Leichtigkeit überboten wird.
"Essad Bey ist in einer russischsprachigen jüdischen Familie geboren in Kiew, aufgewachsen in Baku. Sein Vater war ein Ölindustrieller, seine Mutter war professionelle Revolutionärin, wie man sagen kann. Unter ihren Freunden war auch der junge Stalin. Nach der Oktoberrevolution mussten sie aus Baku fliehen und sind dann in Berlin gelandet", weiß Gurzhy zu berichten. "Da Essad Bey, der damals noch Lev Nussimbaum hieß, eine deutsche Gouvernante hatte, war es für ihn wahrscheinlich einfach in Berlin, weil er die Sprache auch schon kannte, und 1921 ist er zum Islam konvertiert hier in der türkischen Botschaft und hat dann auch Farsi gelernt und ist Kolumnist geworden, hat für verschiedene Zeitungen hier Ende der 20er-Jahre geschrieben. Und er hat auch überall behauptet, er wäre ein persischer Prinz."
Auf einigen der wenigen Fotos, die von Essad Bey existieren, kleidet er sich auch so. Yuriy Gurzhy: "Alle diese Elemente, sie machten irgendwie keinen Sinn zusammen, aber das war eine absolut reale Geschichte, jedes Element davon kann man eigentlich nachweisen."
Dichtung und Wahrheit
Essad Bey war tatsächlich ein exzellenter Kenner des Nahen Ostens wie auch Russlands. Doch als wären seine Lebensumstände nicht schon skurril genug gewesen, lag zwischen Dichtung und Wahrheit bei ihm oft nicht einmal ein Absatz. Besonders einige autobiografische Elemente sind zweifelhaft. Die Eltern hätten sich wie folgt kennengelernt: Der reiche Ölmagnat Abraham Nussimbaum entdeckt die schöne Revolutionärin hinter einer Gefängnisabsperrung und kauft sie frei. Klingt eher nach einem Märchen – so schön, dass man fast möchte, es sei wahr.
"Der hatte einfach diese Gabe, er war ein großartiger Erzähler, und er wurde zum Bestsellerautor, ziemlich schnell." Ziemlich schnell war auch Yuriy Gurzhy. Das erste Lied hatte er in 15 Minuten fertig. "Man kann sich als Songschreiber nichts besseres vorstellen. Man muss nichts ausdenken, es ist alles da gewesen. Das passiert nicht jeden Tag."
Weitere Stücke erarbeitete er mit dem Musiker, Regisseur und Schauspieler Daniel Kahn. Dann kam Marina Frenk, Schauspielerin, Musikerin und Autorin, mit ein paar Stücken hinzu – drei polyglotte und kunstbeflissene Menschen, die auch selbst abwechslungsreiche Biografien vorzuweisen haben. Da hatten sich die richtigen getroffen – um was zu tun?
Ein Leben in 18 Songs
Gurzhy gibt Auskunft: "Also wir erzählen eine Geschichte, das Leben von Essad Bey in 18 Songs. Manchmal lesen wir etwas aus seinen Büchern, wir erzählen das, was in den Songs fehlt, damit man so ein bisschen mehr Kontext hat. Wir zeigen auch Fotos und verschiedenste Dokumente aus der Zeit, lassen sie projizieren. Es gibt auch Untertitel, weil wir auf Englisch, Deutsch, Russisch und Italienisch singen. So ungefähr ist das mit der ‚Who was Essad Bey‘-Show."
Was Tom Reiss in dem Buch "Der Orientalist" auf rund 500 Seiten schildert, haben "The Disorientalists", wie sich das Bandprojekt nennt, auf 18 Lieder eingedampft. Ein Zitat aus dem Theaterstück bringt es auf den Punkt: "Dieser Versuch soll keine Literatur sein. Ich will jetzt angesichts des Todes Rückschau über mein Leben halten. Ich will einfach, so wahr es nur möglich ist, das seltsame Leben niederschreiben, das mir zum Schicksal wurde – nur so wahr es möglich ist. Denn die vollständige Wahrheit ist weder erreichbar noch in diesem Falle erstrebenswert."
Nach seiner Flucht aus Russland kam Essad Bey zuerst nach Berlin, später nach Wien. Dann kamen die Nazis an die Macht. Denen war egal, ob ein Jude zum Islam konvertiert war oder nicht. Diesmal flüchtete Essad Bey nicht, sondern legte sich den Aliasnamen Kurban Said zu – zumindest wird das vermutet. Denn ausgerechnet dieser wichtige Teil seiner Biografie ist nicht eindeutig belegt. Essad Beys Tarnung war so gut, dass es bis heute nicht gelungen ist, sie zweifelsfrei zu entschlüsseln.
Erklärter Anhänger Mussolinis
In der Show haben die Künstler ihren eigenen Weg gefunden, mit der Thematik umzugehen, wie Yuriy Gurzhy beschreibt: "Wir mussten das eben jedes Mal erzählen. Und das ist eine verwirrende und lange Geschichte, unter vielen anderen, die da vorkommen. Daniel hat darüber einen super Song geschrieben. Im Endeffekt singt er den ganz alleine, es ist halt tatsächlich wie ein kurzer Krimiroman. Alle anderen Instrumente sind da einfach überflüssig, Musik ist da überflüssig, deswegen singt er das alleine mit Ukulele und das ist eigentlich perfekt."
Der opulente Schreibstil von Essad Bey machte die Sache für "The Disorientalists" nicht eben einfach. Kurze, aber aussagekräftige Zitate gibt es keine. Yuriy Gurzhy hat so ziemlich alles durchforstet, was es von und über Essad Bey zu erfahren gibt, hat Autoren gesprochen und Dokumentarfilmer befragt. Das Ergebnis fasziniert ihn immer noch: "Ich habe festgestellt: Es ist alles wahr. Und da gab es noch mehr Sachen drauf, die noch schräger waren als alles, was im Buch steht."
Die Märchen aus 1001 Nacht seien im Vergleich zu dem, was es von und über Essad Bey gibt, schon fast fantasielos, sagt Gurzhy. Dazu gehört vor allem Beys meistgelesenes Buch, "Ali und Nino", das unter dem Pseudonym Kurban Said erschienen ist – wenn es denn das Pseudonym von Bey war. Die Geschichte wurde auch verfilmt und darf im Stück natürlich nicht fehlen.
Und die dunkle Seite des Mondes? Natürlich ist auch die vertreten, wie in jeder guten Geschichte. Essad Bey war ein erklärter Anhänger Mussolinis. Natürlich muss man das im Kontext seiner Flucht vor den Kommunisten Russlands sehen. Doch dieses nicht unerhebliche biografische Detail ist auch für das Publikum verstörend, bei aller Faszination, die dieser schillernde Charakter auszulösen vermag, wie Gurzhy zu berichten weiß: "Wenn wir zum Thema Essad Bey und Mussolini kommen, dann finden viele Leute das auch nicht sympathisch - was ich auch absolut nachvollziehen kann. Der ist echt schwer zu lieben."
Bald ein Musical über Essad Bey?
"Who was Essad Bey?" - das Thema selbst ist so spannend, dass man auf der Bühne nicht viel dazu machen muss. In der Hauptsache werden die Lieder gespielt, etwas abgespeckt im Vergleich zu den Albumversionen. Musikalisch hat man sich an den 1920er-, 30er-Jahren orientiert, ohne jedoch sklavisch daran zu haften.
Minimalismus, schön und gut. Doch was nach einem Broadway-Stück klingt, findet Yuriy Gurzhy, darf doch auch so aussehen: "Ich kann mir ganz gut vorstellen, dass es vielleicht irgendwann jemanden gibt, der sich für die Geschichte so interessiert, dass er daraus ein Musical entwickeln könnte – wäre mir eine große Freude, das mal auf einer Bühne zu sehen."
"Essad Bey on Ice" muss es ja nicht gerade sein. Aber so kurz vor Weihnachten soll Yuriy Gurzhy wenigstens einen Wunsch äußern dürfen: "Falls jetzt uns jemand zuhört, der da Bock drauf hätte – wir sind ziemlich einfach zu finden, wir verstecken uns nicht wie Essad Bey, wir sind da und offen für alle tollen Vorschläge."