"The Familiy Tree" von Radical Face

Eine Familiensaga als Folkpop-Trilogie

Radical Face - das Soloprojekt von Ben Cooper
Radical Face - das Soloprojekt von Ben Cooper © Promo / Nettwerk Music Group / Gordon McBryde
Von Ina Plodroch |
Eigentlich wollte Ben Cooper Romane schreiben, aber aus diesem Vorhaben wurde Musik: Acht Jahre hat er unter dem Namen Radical Face an dem Projekt "The Family Tree" gearbeitet - drei Alben und vier EPs sind dabei herausgekommen.
"Als ich mit der Schule fertig war, wollte ich Schriftsteller werden und habe zwei Bücher innerhalb eines Jahres geschrieben."
Die Geschichte des amerikanischen Folk-Musikers Ben Cooper beginnt mit einem Computerabsturz. Wer hat um 2000 herum schon an Backups oder Sicherheitskopien gedacht.
"Eines Morgens wollte ich den Computer anmachen. Aber die Festplatte war kaputt und konnte nicht wiederhergestellt werden. Also habe ich den Computer mit einem Hammer zerschlagen. Und jetzt bin ich Musiker."

Nach seinem Outing flog er zu Hause raus

Aber irgendwie ist Ben Cooper auch beides. Musiker, der in der Indie-Band Electric President spielt, und unter dem Namen Radical Face Folk-Songs veröffentlicht. Und Schriftsteller, der in den letzten acht Jahren ein Mammutprojekt gewagt hat: Ein Generationenroman als Folkpop-Trilogie. "The Family Tree". Bei seiner Familiengeschichte wundert es nicht, dass er sich damit acht Jahre künstlerische auseinandergesetzt hat.
"Ich komme aus einer großen, aber nicht wirklich schönen Familie. Ich habe neun Geschwister. Aber ich habe nur zu ganz wenigen Familienmitgliedern Kontakt. Das Projekt hat mir geholfen, meine eigene Kindheit etwas zu verarbeiten."
Die endete mit 14 Jahren, als Cooper sich geoutet hat und zuhause rausgeflogen ist. Trotzdem sollte es in "The Family Tree" nicht um seine Geschichte gehen. Auf den ersten zwei Alben – "The Roots", "The Branches" – hat er zwar eigene Erfahrungen einfließen lassen, aber er hat sie immer anderen Charakteren zugeordnet und mystisch überhöht. Doch als er im letzten Jahr dieses gesamte Projekt abschließen wollte, holte ihn seine eigene Familiengeschichte ein.
"Als ich am letzten Album "The Leaves" gearbeitet habe, sind schlimme Dinge passiert: Ein Familienmitglied kam zu mir und erzählte mir wirklich schreckliche Dinge aus meiner Familie mit sexuellem Missbrauch, Gewalt. Ich habe letztlich meine Nichte adoptiert und musste vor Gericht über Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, aussagen. All das konnte ich nicht einfach einem Charakter aufdrücken. Das fühlte sich nicht ehrlich an. Deshalb sind auf dem letzten Album auch autobiografische Songs."

Malt mit seinen Texten mystische Bilder

Wie "Bad Blood", in dem Cooper wie in allen Songs nicht konkret wird, sondern andeutet - dass er seiner Familie egal ist, dass das Aufwachsen mit diesen halb verfaulten familiären Wurzeln so schwierig war. Vor diesem Hintergrund klingt der Song erstaunlich sanft. Traurig, aber nicht anklagend.
"Für mich kann Musik die Dinge verändern. Musik kann etwas Schreckliches in etwas nicht so Schreckliches verwandeln. Oder zumindest in etwas Hoffungsvolles. Man kann verändern, wie es sich anfühlt."
Deshalb klingt ein Song wie "The Ship in the Port" auch zuversichtlich. Andere Songs des Albums, die Cooper als weniger autobiografisch beschreibt, klingen dramatischer.
Die Trilogie begann mit "The Roots" viel zurückhaltender. Cooper passte die Instrumente des ersten Albums dieser Zeit an, nur Klavier, Trommeln, Gitarre. Sehr intime Folksongs. Worum genau es bei den Northcotes geht, lässt sich gar nicht so leicht sagen: Mit seinen Texten malt Cooper mystische Bilder, er beschreibt die übernatürlichen Fähigkeiten einiger Charaktere und widmet sich den dunklen Familiengeheimnissen.
"Es war wirklich eine Herausforderung. Weil populäre Musik nicht wirklich dafür geeignet ist, lange Geschichten zu erzählen. Es soll in drei Minuten abgeschlossen sein. Wenn man dann versucht, das über viele Alben auszudehnen, schreibt man plötzlich wie an einem Roman. Man muss viel planen, ich wusste schon zu Beginn, was im dritten Teil der Trilogie vorkommen würde."

Ein beeindruckendes Projekt

Als Roman kann man die drei Alben und vier EPs kaum bezeichnen. Cooper weiß natürlich, dass Indie-Folk-Pop wie seiner nicht mit höchster Aufmerksamkeit stundenlang gehört wird. Er hat deshalb auf Namen, Orte, Zeiten verzichtet. Das unsichtbare Netz, dass die Songs dennoch verbindet, die kleinen roten Fädchen, erklärt er auf seiner Homepage. Dass der Junge aus dem Song "Secrets" zum Beispiel, seine toten Verwandten hören kann, weil er diese Fähigkeit von einem Vorfahren geerbt hat. Die Geschichte taucht auf allen drei Alben auf.
Cooper verbindet die Geschichten auch musikalisch: Manche Charaktere haben Melodien, die immer mal wieder - eher subtil - auftauchen. Und die Instrumentierung folgt dem zeitlichen Fortschreiten der Geschichte: Nach dem minimalistischen Beginn, klingt "The Branches" etwas voller, auch mal mit Geigen, elektronischer Gitarre. Auf "The Leaves" kommt Cooper mit Synthesizer und Sampler dann in der Gegenwart an.
"The Family Tree" ist ein beeindruckend anachronistisches Projekt. Man muss gut zuhören, mitlesen, die Songs aufmerksam nachverfolgen - ein Anspruch, der in der Popmusik selten, und gerade deshalb reizvoll ist. Weil Cooper versucht, Geschichten über Familien zu erzählen, ohne seine eigene zu sehr in den Vordergrund zu drängen und für die Musik auszuschlachten.
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