Ann Petry: "The Narrows"

Brodelnde Erinnerung und glühende Gegenwart

Das Cover zeigt neben Buchtitel und -autorin eine historische Schwarz-weiß-Aufnahme schwarzer Männer mit Anzug und Hut in einer Bar. Einer der Männer hat eine Zigarette im Mundwinkel.
© Nagel & Kimche

Ann Petry

Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann

The NarrowsNagel & Kimche, Zürich 2022

544 Seiten

29,00 Euro

Von Gabriele von Arnim |
Eine weiße Millionenerbin wird von ihrem schwarzen Geliebten verlassen und rächt sich, indem sie ihm Vergewaltigung vorwirft. Anne Petry erzählt mit Verve von der Kluft zwischen schwarz und weiß, reich und arm, von Angst, Wut, Liebe, Verrat und Mord.
Die Geschichte an sich ist schnell erzählt. Eine weiße Frau und ein schwarzer Mann verlieben sich. Er sieht gut aus, hat mit Bravour das prestigereiche Dartmouth College absolviert, jobbt aber als Barmann. Sie ist bildschön, privilegiert und immer mal wieder gebieterisch im Ton. Doch sie verbringen zärtliche, aufregende Wochen. Er will sie heiraten, sie weicht aus. Und auf einmal erfährt er, wer sie wirklich ist.

Verheiratete Millionenerbin und schwarzer Liebhaber

Eine Millionenerbin und verheiratet. Er ist also nur ihr Hengst, ihr Muskelmann. Er muss sich trennen, muss sie vergessen, muss sich retten. Was sie nicht ertragen, nicht zulassen kann und ihn in ihrer weißen Wut öffentlich beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Denn so ist es doch immer, nicht wahr? Schwarze Männer sind die geborenen Verführer und Vergewaltiger.
Das Stereotyp besteht damals – der Roman spielt in den Fünfziger-Jahren des 20. Jahrhunderts – und auch heute noch, wie zum Beispiel Tayari Jones es in einem ihrer Romane erzählt. Es ist immer das alte Muster, das sich durch immer andere Geschichten zieht.

Rassismus, Vorbehalte, Vorurteile


Doch „The Narrows“, so heißt das zwielichtige Viertel, in dem der Roman meist angesiedelt ist, erzählt so viel mehr als nur diese eine Geschichte. Ann Petry stürzt sich mit Verve in das Leben von Schwarzen und Weißen, erzählt lodernd über Rassismus, Vorbehalte, Vorurteile, über Lust, versiegelte Gefühle, über gekauften Journalismus, über die Unmöglichkeit, sich zu befreien aus den Klauen der gesellschaftlichen, sprich: weißen Gebote.

So viele Figuren, so viele Geschichten stecken in diesem Roman. Nicht nur über Link, den schönen Liebhaber, und Camilo, die Frau mit dem gelben Seidenhaar, sondern auch über Powther, den kleinen akkuraten Butler und seine Frau Mamie, die mit ihrer sinnlichen Stimme und ihrer fleischlichen Fülle nicht nur ihn beglückt, oder über Abie, Links Adoptivmutter, eine schwarze Dame comme il faut, die mehr darauf achtet, was die Leute sagen, als auf das, was der Junge braucht. Um nur einige der Figuren zu nennen, die hier in einem großen Netz zusammengewebt sind.

Aufregender und aufsehenerregender Roman

Die Amerikanerin Ann Petry, die 1997 starb und seit einigen Jahren zu unserem Leseglück wieder entdeckt wird, ist eine großartige Erzählerin. Ihr 1946 erschienener Roman „Die Straße“, ein so bestürzender wie fesselnder Harlem-Roman, war das erste Buch einer schwarzen Autorin, das sich über eine Million Mal verkaufte.

„The Narrows“ ist ein berstender, ein hoch komplexer Roman, in einer atemberaubenden Dichte und Dringlichkeit erzählt, dramaturgisch ausgefuchst und von Pieke Biermann kongenial übersetzt. Denn hier toben ganze Leben durch wenige Zeilen, werden brodelnde Erinnerungen und glühende Gegenwart in immer wieder hackend schnellen und kurzen Sätzen zusammengedrängt.
In diesem Roman tost die Sprache durch Angst, Wut, Liebe, Verrat und Mord. Hier wird die Kluft zwischen arm und reich und schwarz und weiß zuerst im Bildergewirbel ausgeleuchtet, dann wieder in eine schattenhafte Vagheit gehüllt, die besänftigt und zugleich bedrohlich wabert. Ein aufregender, ein aufsehenerregender Roman.
Mehr zum Thema