The Vision Thing

Von Michael Rutschky · 20.04.2009
Gern ginge er zur Bundeswehr, erzählte der Fremde im Zug, ein junger Mann von 19 Jahren, seiner Reisebekanntschaft, einem anderen Jungmann (nachdem er ihn ausführlich über seine Ausbildung zum Fluglotsen aufgeklärt hatte). "Ich würde ja gern zum Bund gehen", so der Jungmann wörtlich, "obwohl ich mich nicht für jede Regierung dem Kugelhagel aussetzen würde. Klar, wenn Steinmeier Kanzler wäre …"
So etwas hört man selten und wird es in den nächsten Monaten bis zur Bundestagswahl gewiss nicht öfter hören: Dass die Wahlentscheidung eindeutig und enthusiastisch einer bestimmten Person gilt. Dass die Wähler Angela Merkel, wie die Demoskopen immer wieder berichten, so hoch schätzen, das dürfte sehr selten bis zu jener Todesprobe gehen, die der Jungmann zu bestehen bereit ist. Er scheint sich im Jahrhundert vergriffen zu haben und seine Loyalität einem König gegenüber beweisen zu wollen.

Dagegen scheint das politische Leben der Gegenwart flau, grau und gedämpft. Erregungen, wie sie die Präsidentschaft Barack Obamas hervorruft, gelten als Ausnahme, und gerade der junge Mensch gesteht gern, dass ihm die politischen Leidenschaften, die sich an den Programmen konkurrierender Parteien entzünden könnten, abgehen. Keine Partei, die sich um die Regierung bewirbt, unterscheidet sich von der anderen so, dass Wähler einen Unterschied wie zwischen Schwarz und Weiß erkennen könnten.

Auch viele Leitartikler pflegen das als einen Mangel an Vision zu beklagen; "the vision thing", wie der amerikanische Präsident Bush senior zu spotten pflegte. Die Parteien, die Politiker sollten den Wählern einen mehr-minder grandiosen Entwurf, wie die Gesellschaft aussehen müsste, vorlegen.

Darüber stimmen wir in der Parlamentswahl dann ab, welchen Gesellschaftsentwurf wir verwirklicht sehen möchten, und bis zur nächsten Parlamentswahl kontrollieren wir scharf, ob die von uns zur Regierung bestimmten Politiker diese Vision durchsetzen. Sonst werden sie beim nächsten Mal abgewählt.

Nein, offensichtlich läuft es so nicht. Das Modell ist falsch, und das ist auch gut so. Denn es stellt sich gleich die Frage, was mit dem Teil der Wählerschaft geschieht, dessen Vision mehrheitlich abgelehnt wurde. Müssen sie sich der mehrheitlich gebilligten Vision zwangsweise anschließen? Verfallen sie in verbittertes Schweigen und gehen in den Untergrund? Halten sie treu und fromm an ihrer Alternative fest und warten auf die nächste Chance? Wünschen wir gar – so schaute es in den zwanziger Jahren aus – einen Bürgerkrieg, Vision gegen Vision, in dem der Kugelhagel die Entscheidung bringt?

Nein, keinesfalls. Das demokratische Modell der Bundesrepublik schließt Weltanschauungskämpfe, wie sie in den Zwanzigern tobten, aus. Weltanschauungen in diesem Sinne finden sich nur an den Rändern, im fringe, wie man englisch sagt. Eine durch und durch deutsche Nation reinen Blutes. Eine durch und durch egalitäre Gesellschaft strenger Gerechtigkeit, in der Millionär zu werden ausgeschlossen ist – nein, ich weiß, man soll Rechts und Links nicht verwechseln, der rechte und der linke fringe sind nicht austauschbar.

Das zentrale Problem der Visionen besteht darin, dass sie das politische System der Gesellschaft katastrophal überfordern. Dies System hat keine durchgreifende Kommandogewalt über die Bürger, über die anderen Systeme – selbst wenn der Staat mehrheitlich eine Bank oder eine Fabrik besitzt, sie müssen immer noch als Bank oder Fabrik funktionieren, unabhängig von politischen Zielsetzungen. Wenn man sich anhört, wozu Adolf Hitler beim Schwadronieren so alles Visionen entwickelte, zur Kindererziehung und zur Rechtssprechung, zur Malerei und zur Volkswirtschaft und zur politischen Weltordnung, dann kommt man auf die Vermutung, dass ein totalitärer politischer Apparat auf die Dauer an Selbstüberforderung erstickt. Vermutlich kann man so den Untergang des Sowjetsystems beschreiben.

Der Regierungschef, das ist nicht der Kapitän auf der Kommandobrücke, der mittels seiner Mannschaft das Staatsschiff steuert – nein, das ist einfach ein falsches Bild. Denn wer oder was ist das Meer?


Michael Rutschky, geboren 1943 in Berlin, ist Schriftsteller und freier Publizist. Er arbeitet für Presse und Rundfunk. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Meinungsfreude", "Unterwegs im Beitrittsgebiet", "Mit Dr. Siebert in Amerika" und "Berlin – die Stadt als Roman".