Bei Marina in der Strafkolonie
Die Länge ihres Gastspiels ist Programm - zehn Wochen, macht genau 512 Stunden. An sechs Tage in der Woche wird Marina Abramović im Einsatz sein, zusammen mit ihrem Publikum. Für die einen ist der Himmel, für die anderen die Hölle.
Die Serpentine Gallery öffnete um zehn. Die Frühaufsteher unter den Kunstpilgern standen da schon über zwei Stunden Schlange. Knapp zwei-hundert waren es wohl.
In der Reihe stehen – in der Morgensonne, mitten im Grünen – und warten auf den Einlass: es war des Exerzitiums erster Teil.
Atmo ein Mann vor dem Theater
Er lasse sich überraschen von dem, was auf ihn zukomme, sagt der junge Mann hinter mir. Und er gehe ganz unvoreingenommen rein. Denkwürdig werde es wohl allemal. “Diese Frau hat viel zu bieten. Und das bisschen Warten sind wir ihr schuldig.”
Eine Begegnung mit dem Kunststar – up close and personal – könnte an die Substanz gehen. Ist er darauf gefasst?
Atmo zweiter Mann vor dem Theater
Auf jeden Fall. Das Warten biete Gelegenheit zur Einstimmung auf das Bevorstehende. Er mache sich Gedanken darüber, ob und wie sie uns bereichere, die Frau und ihre Arbeit.
Atmo ein Mitarbeiter
Ein junger Mitarbeiter der Meisterin versichert: Wir alle hier draußen sind längst mittendrin in der Performance. Die Langeweile, der Müßiggang: sie liefern den Vorgeschmack und gehören mit dazu. Das Ausharren sei nur eine erste Geduldsprobe – und helfe bei der Konzentration. Und noch ein Tipp: “Wenn Sie drin sind, lassen Sie sich Zeit!”
Begrüßung mit pechschwarzem Haar
Die Künstlerin steht am Eingang der Galerie: im dunkelblauen Anzug und mit langem, pechschwarzem Haar. Mit einem freundlichen “Good morning” begrüßt sie jeden ihrer Gäste persönlich.
Was folgt ist Exerzitium Teil 2: Taschen, Beutel, Telefone und anderes technisches Gerät wandern ins Schließfach. Wir sollen uns frei machen, ent-leeren, entrümpeln und empfänglich werden für das Orakel namens Marina Abramovic.
Atmo Marina Abramovic
Keine ihrer bisherigen Arbeiten war so radikal wie diese, betonte die 67-Jährige beim Presseter-min Anfang der Woche. In dieser eigens für ihr London-Gastspiel konzipierten Performance setze sie ganz auf Minimalismus, Purismus und Energie.
Atmo Marina Abramovic
Zum ersten Mal in ihrem Leben bemühe sie sich um die Schaffung eines charismatischen Raums – fast ganz ohne Requisiten. Alles konzentriere sich auf den Augenblick. Den perfomatorischen Akt habe sie reduziert auf zwei Grundelemente: ihre eigene Präsenz und die Interaktion mit dem Publikum.
Damit es im Museum nicht zu eng wird, ist der erste Einlass auf 150 Personen begrenzt. Von der Garderobe geht es weiter in den ersten, taghellen und ganz in Weiß gehaltenen Galerieraum.
Hypnotisiert und in Trance
Die Besucher versammeln sich um ein quadra-tisches Holzpodest in der Mitte. Nach kurzer Vorrede schreitet Zeremonienmeisterin Abramovic zur Tat. Exerzitium Teil 3: Sie geht auf einen Einzelnen zu – langsam und mit Blickkontakt zum “Auserwählten” – nimmt den Betreffenden an der Hand, flüstert ihm etwas ins Ohr und “entführt” ihn aufs Podest. Nach ein paar Minuten stehen dort sechs Personen, alle mit geschlossenen Augen, wie hypnotisiert oder in Trance.
Nach und nach – wir sind im vierten Akt des Spielchens – schwärmen dann in Schwarz gekleidete Gehilfinnen und Gehilfen der Künstlerin aus und greifen sich ihre Statisten. Den einen führen sie nach nebenan und lassen ihn wie einen Sträfling in der Raummitte stehen, andere werden an der Wand positioniert, mit dem Gesicht zum Weiß. Jeder zum Mitspieler und Kollaborateur. Zum je nach Befindlichkeit zum Auserwählten oder Opfer.
“Die Wände sind leer, und in der ganzen Galerie gibt es kein einziges Exponat. Was nicht heißt, dass es für mich nichts zu tun gibt,” sagt Abramo-vic. “Im Gegenteil: das Nichts wird mich voll be-schäftigen, die geballte Energie meines Publikums im Hier und Jetzt.”
So oder ähnlich wird es ablaufen, das lautlose, schweigsame Ritual des “Jeder für sich” und “Alle miteinander”: 512 Stunden lang, bis Ende August.
Exerzitium Teil 5: Am Ausgang der Galerie liegen Notizzettel bereit. Besucher dürfen und sollen ihre Eindrücke festhalten. Auf einem der Zettel war zu lesen: “Marina Abramovic ist soooo sexy. Und so voller Weisheit.” Auf einem anderen stand: “Ich kam mir vor wie in einer Strafkolonie. Aber hat Spaß gemacht!”