Theater goes Online: Ein Überblick

Bühnen geschlossen – Inszenierungshighlights aus den Archiven

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Kopf eines Mannes, der von hinten offenbart, dass der Kopf eine Maschine ist.
"Uncanny Valley" zeigen die Münchner Kammerspiele nun online: Die Zuschauer merken erst, dass Thomas Melle eine Figur ist, wenn die Kamera es ihnen zeigt. © Münchner Kammerspiele/Gabriela Neeb
Von Stefan Keim |
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Ob große Opernhäuser oder kleine Bühnen: In Zeiten der Coronakrise wollen viele Häuser ihr Programm online präsentieren. Manche produzieren Lesungen, andere zeigen aktuelle und historische Stücke aus ihrem Archiv.
"Ich freue mich, dass Sie hier zusammen gekommen sind zu meinem Vortrag über das Problem der Unstetigkeit und – wie ich es nenne – des 'Uncanny Valley', des Unheimlichen Tals."
Thomas Melle hält einen Vortrag. Aber es ist nicht der Schriftsteller selbst, der auf der Bühne sitzt, sondern ein Roboter, der ihm nachgebildet ist und mit seiner Stimme spricht.

Irritation vor dem Bildschirm

"Uncanny Valley" von Stefan Kaegi war am Wochenende im Onlinespielplan der Münchner Kammerspiele zu sehen und bekam durch das andere Medium eine zusätzliche Dimension. In den Aufführungen vor Corona erkannte das Publikum live im Raum sofort, dass da ein künstliches Wesen saß. Auf dem Bildschirm entstand nun erst eine Irritation, es hätte auch der echte Melle sein können, der bewusst künstlich agierte. Bis eine andere Kameraperspektive seinen Hinterkopf enthüllte, dem Hut und Haare fehlten und den Blick ins Innere einer Maschine zuließen.
"Wenn Sie gekommen sind, um hier einen Burgschauspieler zu sehen, dann sind Sie falsch. Aber wenn Sie gekommen sind, um hier das Authentische zu sehen, dann sind Sie hier auch falsch. Denn ich will mich nicht mehr exponieren, nicht so, nicht als das Echte, als der echte Mensch", sagt Melle.

Jeden Tag eine andere Aufführung

Jeden Abend ab 18 Uhr läuft eine andere Aufführung aus dem Spielplan der Münchner Kammerspiele online. Dienstags und donnerstags sollen experimentelle Liveformate dazu kommen, an denen sich auch das virtuelle Publikum beteiligen kann. So sind die Kammerspiele – was die großen Schauspielhäuser – angeht derzeit die Gewinner im Netz.
Gefolgt von der Berliner Schaubühne, die ihr Archiv öffnet und bedeutende Inszenierungen von Thomas Ostermeier ebenso zeigt wie historische Aufführungen von Peter Stein. Ein besonderes Highlight naht am kommenden Sonntag mit Kleists "Prinz Friedrich vom Homburg" und Bruno Ganz in der Titelrolle. Eine Klassikerneudeutung, die damals eine Zeitenwende im Theater markierte.

Tanzende mechanische Wesen

Figuren bewegen sich über die Bühne, die wie zusammengesetzte Puzzleteile aussehen. Die mechanischen Wesen tanzen allein und zu zweit, sie nähern sich, scheinen zu flirten oder sogar eindeutige erotische Absichten zu hegen. "Das mechanische Ballett" war vor 33 Jahren die erste Produktion des Theaters der Klänge aus Düsseldorf. Auch das freie Ensemble um Regisseur und Choreograph Jörg U. Lensing nutzt die Coronazeit, um seine Geschichte zu dokumentieren. Das Anschauen ist kostenlos, aber das Theater der Klänge bittet um Spenden, um einen Teil seiner finanziellen Ausfälle kompensieren zu können.

Kellerbühne nun ein Filmstudio

"Die Zeiten sind schlecht, aber the show must go on. Ab dem 21.3.2020 lädt das Theater Paderborn jeden Abend um 19.30 Uhr eine Novelle aus der berühmten Novellensammlung des Decamerone von Giovanni Boccaccio auf seiner Webseite hoch."
Katharina Kreuzhage, die Intendantin des Theaters Paderborn, hat die Kellerbühne in ein Filmstudio umbauen lassen. Hier nehmen nun Mitglieder des Ensembles ihre Lesungen auf, immer einzeln, wie es sich in Corona-Zeiten gehört. In der Rahmenhandlung des "Decamerone" haben sich zehn Menschen vor der schwarzen Pest in ein Landhaus bei Florenz geflüchtet. Während draußen die Krankheit tobt, erzählen sie sich Geschichten, hundert Novellen gegen die Langweile.

Ödön von Horváth auch auf Bildschirm gut

Auch das Schlosstheater Moers hat mit einem ersten Onlinetest gute Erfahrungen gesammelt. Sein virtueller Spielplan beginnt am 28. März, mit Ödön von Horváths garstig-satirischer Komödie "Zur schönen Aussicht". In einem verlassenen Hotel sammelt sich das korrupte und kriminelle Personal um den letzten Gast, eine Baronin.
Horváth beschreibt eine von der Außenwelt abgeriegelte Gesellschaft, die isoliert im eigenen Saft brodelt und implodiert. Eine Parallele zum Decamerone wie zur Gegenwart. Die Kraft des Ensembles und die Präzision der Regie kommen auch auf dem Bildschirm rüber.

Kleine Produktionen präsentieren sich Online

Neben Kammerspielen und Schaubühne präsentieren sich die kleinen Theater besonders flexibel. Viele Off-Produktionen wie Helge Schmidts grandioses Recherchestück "Cum-Ex-Papers" findet man auf dem neuen Portal spectyou. Hier können Bühnen ihre Videos selbst hochladen. Eine exklusives, kuratiertes Angebot an gestreamten Theateraufführungen findet sich bei nachtkritik.de.
Im Musiktheater hingegen haben die großen Opern in Berlin, München und Wien am schnellsten reagiert. Am meisten allerdings ist das Portal operavision.eu zu empfehlen, ein Zusammenschluss europäischer Musiktheater mit einem riesigen Angebot an kompletten und zum Teil spektakulären Aufführungen. Viele Bühnen arbeiten derzeit an neuen Eigenproduktionen, an Onlineformaten, die über die Lesung hinaus gehen. Da der kulturelle Shutdown wohl noch etwas länger dauert, ist hier noch einiges zu erwarten.
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