Die Stimme der Favela
05:29 Minuten
In der Favela Heliópolis drängen sich 200.000 Menschen am Rand von Sao Paulo. Elend und Gewalt prägen den Alltag. Davon erzählt eine Theatergruppe, die sich in dem Armenviertel gegründet hat und inzwischen weit über seine Grenzen hinaus bekannt ist.
Gewalt ist omnipräsent für die Menschen in der Favela: Auf der Straße, in den Häusern, in der Familie, sie berührt in besonderer Weise Frauen, Kinder, Homosexuelle und Transgenderpersonen.
"Wir haben zunächst auf die 'Mikrogewalt' geschaut, also die Gewalt im Kleinen, die man hört und sieht", sagt Miguel Rocha, der künstlerische Leiter des Theaterkollektivs Heliópolis, "und diese Gewalt breitet sich überall aus, in den großen Städten, in den Randgebieten, überall in Brasilien. Zunächst ist diese Gewalt subtil, aber sie ist der Ausgangspunkt für die weitverbreitete Gewalttätigkeit."
Gefangen im Kreislauf der Gewalt
Der Name des Theaterkollektivs ist Programm. Heliópolis – die „Sonnenstadt“ – das ist die größte Favela von Sao Paulo. 200.000 Menschen leben hier auf nur einer Million Quadratmeter. Der erst 34-jährige Miguel ist einer von ihnen: Mit 14 kam er aus dem verarmten Nordosten Brasiliens in das Elend am Rande der Megametropole Sao Paulo, erlebte den von Gewalt geprägten Alltag. Mit dem Stück 'Sutil violento' verarbeiten Miguel und die anderen zwölf festen Mitglieder der Theatergruppe eigene Erfahrungen.
Mit klagenden Gesängen und Texten, Schreien, Stille – auf Stühlen sitzend, dann springend und tanzend inszenieren sechs Darsteller begleitet von Musikern eine Gewalt, die alles andere als subtil ist. Ein Spiel mit angehäuften Mausefallen suggeriert: Wir sind doch alle gefangen.
Den Höhepunkt bildet zweifelsohne eine Vergewaltigungsszene, an deren Ende eine Frau gebrandmarkt wird – mit einem Brenneisen in ein Stück Fleisch. Die Szene zu spielen sei hart, weil Gewalt gegen Frauen real ist und sich ständig und immer häufiger ereigne, sagt die Darstellerin Daum Regis.
Kritik an desolaten Zuständen
Mit sozialkritischen Stücken – ein Dutzend seit der Gründung um die Jahrtausendwende – hat sich die Theatergruppe weit über die Grenzen der Favela und Sao Paulos hinaus einen Namen gemacht. Heliópolis hat zahlreiche Preise, Gelder und sogar ein eigenes, kleines Theater in einem bürgerlichen Viertel von der öffentlichen Hand in Sao Paulo bekommen.
Das Schauspielerkollektiv legt den Finger in die Wunden der brasilianischen Gesellschaft: Zurzeit mit dem Stück Cárcere, in dem die desolaten Zustände in überfüllten Gefängnissen aufgegriffen werden.
"In diesem brasilianischen Staat der Gewalt, in dem unsere Repräsentanten so grausam handeln können wie Präsident Bolsonaro, bleiben die Künstler wachsam, fordern eine Regierung heraus, die gar nicht existieren dürfte", sagt Miguel Rocha. Er macht aus seiner Wahlpräferenz keinen Hehl. Wie die meisten Künstler wünscht er sich ein Comeback von Ex-Präsident Lula da Silva.
Hoffnung auf einen Regierungswechsel
Denn Kürzungen bei Ausgaben für Soziales und Kultur, vor allem am Beginn der Amtszeit von Präsident Bolsonaro, das Herunterspielen der Gefahren der Pandemie, die zunehmende Brutalität der Sicherheitskräfte bei Einsätzen in den Favelas haben die sozialen Spannungen verschärft. Das Land ist tief gespalten. Miguel Rocha hofft auf ein Ende dieser Regierung:
"Sie hinterlässt auf alle Fälle Spuren tiefen Leids, der Misere, des Hungers, der Verarmung auch in intellektueller Hinsicht – aber ich glaube, die Menschen schaffen es, darüber hinweg zu kommen, und gemeinsam werden wir es schaffen, dass die Lebensfreude zurückkehrt. Das halte ich für wichtig."
Vorausgesetzt Lula gewinnt am 30. Oktober bei der Stichwahl, was alles andere als ausgemacht scheint.