Nicht nur auf die Ersten gucken
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Die Münchner Kammerspiele sind zum zweiten Mal in Folge als "Theater des Jahres" gewählt worden. Auch andere Auszeichnungen sind wenig überraschend, meint Kritikerin Susanne Burkhardt. Sie plädiert dafür, auch kleinere Bühnen in den Blick zu nehmen.
Für Intendant Matthias Lilienthal ist die erneute Wahl seines Hauses zum "Theater des Jahres" ein letzter Triumph und gleichzeitig ein Signal an die Kulturpolitik: Neuen Konzepten Zeit zu lassen, damit sie sich entwickeln können. Die Münchner CSU wollte Lilienthal nicht verlängern, weil er anfangs Stadt und Publikum heraus- und manchmal überforderte. Als die Bühne der Münchener Kammerspiele dann ihre großen Erfolge einfuhr, war Lilienthal schon auf dem Absprung. Schade für München, finden 13 der Kritiker.
Die Liste geht bewährt und gut weiter: Sandra Hüller, zum vierten Mal Schauspielerin des Jahres, diesmal für ihren fragilen, suchenden "Hamlet" unter Johan Simons am Schauspielhaus Bochum, ist mit elf Stimmen gewählt. Für den außergewöhnlichen Fabian Hinrichs, der in "Glaube an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt" gemeinsam mit René Pollesch den Berliner Friedrichstadtpalast verzauberte, reichen sechs Stimmen zum Schauspieler des Jahres – fünf bekamen Jens Harzer und Thomas Schmauser und landen damit nur auf dem zweiten Platz.
Wo sind die Überraschungen?
Auch für den Titel "Beste Kostümbildnerin" genügen sechs Stimmen: Victoria Behr hat wieder für Herbert Fritsch an der Berliner Schaubühne ihre opulenten, schrill-pastell- und bonbonfarbigen Kostüme entworfen.
Das Stück des Jahres, "Die Verlorenen", stammt von einem etablierten Autor, dem Österreicher Ewald Palmetshofer. Von ihm waren acht Kritiker überzeugt. Keine Frage, alle Auszeichnungen sind hochverdient.
Nur warum gibt es so wenig Überraschungen? Wie Gina Haller (zwölf Stimmen), die an Sandra Hüllers Seite eine starke Ophelia spielte, die eine der besten "Nachwuchskünstlerinnen" der Umfrage ist. Oder Florentina Holzinger, die österreichische Choreografin, die das künftige Volksbühnen-Team um René Pollesch verstärken wird. Von ihr kommt die beste Inszenierung des Jahres "Tanz".
Holzinger ist Newcomerin in der Theaterszene, ihre Arbeit ästhetisch und formal innovativ. Selbstbestimmte Frauen nackt auf der Bühne, ein kraftvoller, fordernder Abend über Körperdisziplin. Sieben von 44 Kritikerstimmen galten ihr, sechs gingen an Leonie Böhms "Räuberinnen" - eine knappe Entscheidung also. Und damit auch ein Problem des Auswahlverfahrens: Manche der Voten fallen mit nur einer Stimme Unterschied aus.
Abseitiges stärker in den Blick nehmen
Was bedeutet dann ein erster Platz wirklich? Dazu kommt: Viele der 44 Kritiker und Kritikerinnen sehen vor allem Arbeiten in ihrer Region. Ein kleiner Teil reist nur noch durch den deutschsprachigen Raum. Kein Wunder also, dass Großstadtproduktionen immer stärker vertreten sind oder jene, die beispielsweise zum Theatertreffen eingeladen wurden und dadurch von mehr Kritikern gesehen werden, wie "Hamlet" aus Bochum oder Holzingers "Tanz".
So spiegelt die "Theater heute"-Bestenliste letztlich bereits Eingeführtes und Bewährtes wieder. Und verzerrt den Blick, denn kleinere Bühnen, Abseitiges wie beispielsweise das Theaterhaus Jena, das nur von einem Kritiker für die beste Gesamtleistung nominiert wurde, haben so kaum eine Chance, jemals "Theater des Jahres" zu werden.
Wer könnte denn substanziell deren Gesamtleistung beurteilen? Für weiterreichende Erkenntnisse zur aktuellen Theaterlandschaft lohnt daher der Blick auf die Zweit-, Dritt- oder Viertplatzierten. Sonst bleibt der Eindruck von einer künstlerisch starken, aber irgendwie langweiligen Saison.