Eine jüdische Gemeinde auf der Bühne
In der Synagoge Rostock wird nicht nur gebetet. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde spielen hier auch Theater. Nach Romanmotiven von Erich Maria Remarque ist dort "Die Nacht vergeht" entstanden – ein Bühnenstück über Flucht und Verfolgung.
"Elfi, meine alte Liebe! Da bin ich wieder! Ich konnte nicht früher kommen, ich war sehr müde. - Oh.- Ich glaube, ich werde alt. Ich kann dich nicht einmal küssen. Aber du küsst mich auf die Wange."
Feierstimmung. Gute Bekannte treffen sich nach Jahren wieder. Man ist alt geworden und müde vor der Zeit. Denn hier sitzen Gejagte mit dem Sektglas beieinander. Für einen Abend wollen sie vergessen, dass sie Ausgestoßene sind.
"Ah, bekannte Gesichter! Wer nirgendwo hingehört, trifft sich überall wieder. Steiner! Wo haben wir uns das letzte Mal getroffen? In Wien, dächte ich…"
Adaption eines Remarque-Romans
Paris 1938: Eine Silvesternacht unter Emigranten. Erich Maria Remarque, der aus Deutschland vertriebene Schriftsteller, Autor des Weltbestsellers "Im Westen nichts Neues", beschreibt in seinem Roman "Liebe deinen Nächsten" das Schicksal dreier Flüchtlinge, die kein Land aufnehmen will. Die Theatergruppe der Jüdischen Gemeinde in Rostock hat ein Stück für die Bühne daraus gemacht.
"Frankreich ist das einzige Land, das für uns übrig geblieben ist in Europa. - Vivat Frankreich! Vivat!"
Wo früher Kinder turnten, wird heute Theater gespielt und getanzt, es werden Gottesdienste gehalten und Feste gefeiert. Die Synagoge der Jüdischen Gemeinde in Rostock ist eine Mehrzweckhalle, eine große Wand aus leichten Holzplatten kann auf und zu gefaltet werden. So passt sich der Raum den jeweiligen Bedürfnissen an. Gerade ist die Faltwand geschlossen, im kleineren Teil befindet sich der Gebetsraum mit hölzernen Bankreihen und Thora-Schrein. Vor der Wand, im größeren und helleren Teil der Halle mit großen Fenstern zum Hof, wird für die Aufführung geprobt.
"Was macht eigentlich der Minister Althoff? - Dem geht es ganz gut. Er ist Taxifahrer in Zürich. Schwarz natürlich, aber er hat was zu essen."
Laiendarsteller mit jüdischen Wurzeln
Hier stehen Laien auf der Bühne. Schon im Rentenalter oder kurz davor die meisten. Sie kamen in den 90er-Jahren aus den Staaten der zerfallenen Sowjetunion nach Deutschland – aus Russland und Kasachstan, Estland und der Ukraine. Sie alle eint, dass sie jüdische Wurzeln haben. Das, was sich hier auf der Theaterbühne abspielt, ist Teil vieler Familiengeschichten: Flucht, Vertreibung, Hunger, Verfolgung, Gefangenschaft.
Matvij Chekotun ist erst Anfang 20, er gehört zu den Jüngsten im Theaterensemble der Jüdischen Gemeinde. Als Kind kam er aus der Ukraine nach Deutschland, die Familiengeschichte im Gepäck:
"Da gab es ja Hungersnöte in der Ukraine, wo wir ursprünglich herkommen. Der Uropa, also der Vater von meinem Opa, der ist in den Krieg gegangen und dann als Gefangener bei den Deutschen gelandet. Als jüdischer Gefangener. Was mit dem passiert ist, das weiß man nicht. Das ist uns immer noch ein Rätsel. Das ist ja auch mit ganz vielen so gekommen. Es ist auch irgendwie so ein Fass ohne Boden."
Matvij Chekotun, Typ junger Surfer mit Mütze, geht zur Bühne, die keine richtige Bühne ist. Zu ebener Erde das einfache Bühnenbild: ein Tisch, zwei Stühle, eine improvisierte Zimmerwand. Zwei Männer, ein junger, ein älterer. Matvij ist der junge Emigrant, der von dem Älteren Papiere und Geld für die weitere Flucht bekommt. Ein Mann namens Josef Steiner hat alles besorgt.
"Er kommt wieder! Steiner kommt wieder! - Er kommt nicht wieder. Herrgott, machen Sie es doch einem nicht noch schwerer mit Ihrem ewigen 'er kommt wieder'! Er kommt nicht wieder."
Der Gemeinde-Vorsitzende in einer Hauptrolle
Josef Steiner, der Mann, der so vielen geholfen hat, wurde inzwischen verhaftet. Und lebt nicht mehr. Sein alter Freund ist verzweifelt. Und gibt das Geld, mit dem er selbst weiter fliehen könnte, dem Jüngeren.
"Das war vorauszusehen. Ich habe es ihm gleich gesagt! Und nun nehmen Sie endlich diese dreckigen Lappen. Das sind 2240 Francs."
Der Josef Steiner wird in der Aufführung von Juri Rosov verkörpert. Er ist der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Rostock:
"Dieser Josef Steiner, den ich spiele, das ist ein Deutscher, der hilft jüdischen Flüchtlingen. Der bezahlt mit seinem Leben. Er kann nicht anders. Er kann nicht anders leben. Aus meiner Sicht ist das eine wichtige Position von sozusagen kleinen Menschen, die wollen helfen. Weil, manchmal im Vergleich zu großen Menschen, die nehmen diese Worte, dieses Buch 'Bibel', die nehmen das ernst. Und ich finde auch wichtig, dass es von uns kommt, von der jüdischen Seite, diese Mahnung, dass auch in dieser Zeit das ist aktuell: Du musst helfen."
Aufführungen auf Russisch und Deutsch
Die Theatergruppe an der Jüdischen Gemeinde gibt es erst seit einem Jahr. Vorher haben viele, auch Juri Rosov, beim Jüdischen Theater "Mechaje" mitgemacht, das es bis 2016 in Rostock gab. "Liebe deinen Nächsten" ist das erste Stück, das nicht nur in russischer, sondern auch in deutscher Sprache aufgeführt wird, erzählt er:
"Nicht leicht für die Menschen, nicht in ihrer Muttersprache zu spielen. Aber wir finden das auch sehr wichtig, das Gespräch mit dem deutschen Zuschauer. Und es ist auch ein Zeichen von uns, für unsere Bewunderung der deutschen Kultur."
Die Bühnenfassung des Romans von Remarque stammt von Margarita Wischnjakowa, sie ist auch die Regisseurin des Stücks, erklärt Juri Rosov:
"Unsere Theaterleiterin Margarita Wischnjakowa, die ist verdiente Künstlerin Russlands. Eine berühmte Schauspielerin aus Moskau vom Moskauer Jüdischen Theater 'Schalom'. Das ist ein Glück für Rostock, dass sie hier lebt."
"Wir alle genießen diese Möglichkeit, zusammenzutreffen und Proben zu machen. Sehr, sehr schön ich finde", fügt die Regisseurin hinzu.
Da das Stück in zwei Sprachen aufgeführt wird, werden alle Szenen auf Deutsch und Russisch einstudiert. Die älteren Schauspieler spielen beide Rollen, von den jüngeren können nicht alle perfekt Russisch, sodass Rollen mehrfach besetzt werden müssen. Alexander Rosov, der nur auf Deutsch agiert, hat gerade frei. Er kam mit seinen Eltern nach Deutschland, als er vier war. Dort sei auch sein russischer Wortschatz stehen geblieben, sagt er von sich. Er macht mit, weil er auf Deutsch spielen kann und: Er mag das 80 Jahre alte Stück von Erich Maria Remarque, sagt er:
"Weil es eben nicht lamentiert. Weil es nicht über den Holocaust lamentiert. Ich versuche, das ja immer aus der Perspektive eines deutschen Publikums zu betrachten, das keine jüdischen Wurzeln hat. Gerade weil viele von meinen Freunden, die überhaupt nichts damit zu tun haben, haben gesagt, dass sie sich das Stück gerne ansehen wollen. Und in der Schule ist es ja immer so gewesen, dass Deutsche das ganze Weltkriegsthema sehr schnell satthatten, weil sie keinen Bezug dazu haben. Ich habe auch keinen richtigen Bezug dazu, finde ich.
Das Theaterprojekt wirft einen neuen Blick auf die Gemeinde
Auch wenn sein Vater von Anfang an aktives Mitglied der Jüdischen Gemeinde war und inzwischen der Vorsitzende ist - Sohn Alexander hielt, wie viele seiner Generation, Abstand.
"Ich gehe manchmal zu den großen Feiertagen hin, langweile mich aber auch sehr schnell dann. Der Löwenanteil sind die älteren Leute. Ganz oft habe ich mit denen einfach keine großen Gemeinsamkeiten auf den ersten Blick. Ich habe aber hier bei den Theaterproben festgestellt, dass ich mir nie wirklich die Mühe gemacht habe, mal hinter die Oberfläche zu gucken und mich mal wirklich mit den Leuten auseinanderzusetzen. Es hat sich dann nach den Proben herausgestellt, dass man doch mehr gemeinsam hat, als ich dachte.
Zum Beispiel mit Wladimir Abugov. Alexander kannte ihn, dem er nun in dem Stück gegenübersteht, bisher nur als Wachmann der Jüdischen Gemeinde. Das intensive Spiel des Älteren beeindruckt ihn.
"Fahrt Kinder. - Kommen Sie nicht mit? - Nein, ich bleibe hier. Ich kann Ihnen nicht erklären, warum, aber ich bleibe. Punkt. Was kommt, das kommt."
"Er macht das sehr gut.", sagt Alexander Rosov. "Er bringt die Emotionen sehr gut rüber. Man merkt auch, dass er sich in dieses Theater so ein bisschen verliebt hat. Er ist sehr perfektionistisch, sehr selbstkritisch. Er bittet mich auch oft, ihm bei seinen Texten zu helfen, damit er sich verbessern kann. Da habe ich großen Respekt vor."
Das gemeinsame Proben verbindet
Man merkt es seinem Spiel an: Wladimir Abugov kann seine Rolle tief nachempfinden, die Rolle eines alten Mannes, der nur noch Hoffnung hat für andere und ihnen hilft - aber der für sich selbst den Lebensmut verloren hat.
"Das genau, was dort steht", sagt Wladimir Abugov. "Dass Juden, die ganz einfach wie andere Menschen gelebt haben in Deutschland, sofort wie Hunde weg waren. Das fühle ich. Und sehe, wie es jetzt gut ist und verstehe, wie schlecht es damals war. Der ganze Unterschied. Das ist meine Welt, die Juden. Ich war Jude, geboren als Jude, habe aber nichts gewusst. Fast nichts."
Die Jüdische Gemeinde in Rostock ist eine offene Gemeinde. Jeder kann hier herkommen, um an Veranstaltungen, Gottesdiensten oder den zahlreichen Zirkeln teilzunehmen. Es gibt Gruppen für Theater- und Puppentheater, Musical, Schach, Sport und Kunst. Einlasskontrollen gibt es keine.
Wladimir Abugov gefällt die Idee einer offenen Gemeinde:
"Ich als Wachmann sehe sehr viele Deutsche. Sie kommen zum Schach, zum Malen, Tanzen, zum jüdischen Tanzen. Sehr viele kommen einfach zu Besuch. Sehr gut."
Es kann aber auch vorkommen, dass man angepöbelt wird, wenn man aus dem Haus kommt, an dessen Eingangsschild der Davidstern zu sehen ist. Fast jedem hier ist das schon einmal passiert.
"Von mir - keine Angst", sagt Wladimir Abugov. "Von Kindern - ein bisschen. Angst. Das Wort hat für meinen Sinn nicht die richtige Bedeutung. Ein bisschen anders Sorgen, nicht Angst. Das ist etwas ganz anderes."
Kurz vor dem Holocaust
"Dong, dong, dong! - Gesundes neues Jahr! - Gesundes neues Jahr! - Es leben die unterirdischen Brigaden! Solange man da ist, ist nichts verloren! – Prost."
Der Tanz auf dem Vulkan. 1938, als Erich Maria Remarque den Roman schrieb, hatte die planmäßige Judenvernichtung noch nicht begonnen. Das, was noch kommt, hat man als Darsteller und als Zuschauer aber immer im Kopf, sagt Juri Rosov. Die Gegenwart hat für ihn keinen Schrecken, er fühlt sich sicher als Jude in Rostock:
"Natürlich gibt es auch die in Rostock, die uns hier nicht haben wollen. Wir kriegen manchmal Briefe oder E-Mails. Ein paar Mal wurde die Gemeinde auch angegriffen, Fenster wurden zerschlagen. Aber das war vor fast zehn Jahren. Gerade deswegen meine ich: Wir müssen uns nicht verrückt machen. Wir müssen uns nicht deswegen schließen. Sonst riskieren wir - ich habe so viele jüdische Gemeinden gesehen, wo absolute Stille, absolute Ruhe herrscht. Das will ich nicht. Ich will, dass dieses Haus lebendig bleibt. Mit Kindern, mit Jugendlichen, mit Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen. Sonst ist das nicht meine Gemeinde mehr.
Theater als Nahrung für die Seele
Im Saal neben der Synagoge geht mit einem Tanz der Silvestergesellschaft von 1938 für heute die Probe zu Ende. Margarita Wischnjakowa packt zusammen. Mit den Textbüchern unter dem Arm steht sie vor einer Wand voller Fotos von Theater- und Musicalaufführungen, Tanzabenden und Puppentheater. Menschen aller Altersgruppen sind darauf zu sehen. Die Moskauer Schauspielerin und Regisseurin ist überzeugt davon: Theater ist Nahrung für die Seele. Viele gerade der älteren Mitwirkenden würden sonst allein zu Hause sitzen, die Kinder sind oft weggezogen aus der Stadt.
"Ich bekomme eine neue Erfahrung von Geist. Ist eine gute Nahrung, vegan. Eine- gesunde Nahrung von Geist! Ich bin sicher, dass das Theater Freude zum Zuschauer bringen muss. Wenn wir über die dunkle Zeit und die Schwierigkeit der Situation sprechen, muss man aber immer Hoffnung haben, immer einen Flug zum Himmel, zum Licht und zur Sonne", sagt Margarita Wischnjakowa.