Fehlendes Publikum
Ein Rummelplatz in Köln: Wer denkt da nicht an das ikonische Räuberrad vor der Berliner Volksbühne? © imago /Jochen Tack
Was das Theater vom Rummel lernen kann
04:45 Minuten
Neustart mit Schwierigkeiten: Nach zwei Jahren Pandemie findet das Theaterpublikum kaum zurück in die Säle. Was tun? Unsere Kolumnistin sammelt Ideen auf dem Rummelplatz: Dort findet sich die Stadtgesellschaft nämlich wie selbstverständlich ein.
Seit ich denken kann, haben Rummel das, wovon Theater träumen: ein stabiles Publikum, das nicht auszusterben droht.
Aber warum eigentlich? Schließlich kostet alles außer Durchlaufen und Gucken mindestens sieben Euro. Es ist laut, voll, und man kann nirgendwo sitzen – außer in Dingern, die sich drehen. Aber auch das kostet sieben Euro und zumindest mir wird schlecht davon.
Der Rummel bringt alle zusammen
Trotzdem: Zumindest auf den Neuköllner Maientagen in Berlin treffen sich alle, die sich sonst selten bis nie treffen. Man hört alle Sprachen dieser Stadt. Hipster sitzen neben Rentnern im Riesenrad. Halbwüchsige stehen neben Halbnackten in der Schlange. Bärtige, Kopftuchtragende, Kinder, einzelne, mehrere – alle wollen gleichzeitig auf Dosen werfen und Plüschtiere für sieben Euro gewinnen oder sich nebeneinander den Freefall Tower hochziehen lassen, um dann für ein paar Sekunden in die Tiefe zu stürzen.
Als wäre das alltägliche Zusammenleben mit den anderen Menschen auf diesem Planeten und dessen drohender Klimatod nicht schon furchterregend genug. Und falls jemand lange keine Trennung hinter sich hatte und sich erinnern möchte, wie sich das anfühlt: Der Freefall Tower ist euer Fahrgeschäft!
Menschen wollen etwas fühlen
Also, woran liegt es? Und was kann das Theater vielleicht vom Rummel lernen? Menschen wollen unterhalten werden und etwas fühlen. Wozu sonst setzt man sich in eine Geisterbahn, in eine „Wilde Maus“ oder in einen Theatersaal, in dem Menschen einem Menschsein vorspielen?
Als Fan von beiden traditionsreichen Institutionen fallen mir noch mehr Gemeinsamkeiten ein: geiler Sound mit der Lieblingsmusik der Leute hinter den Kulissen. Buntes Licht. Nebel. Und manchmal gut gemachte, manchmal billige Effekte.
Dramatische Szenen voller Aussagekraft und Poesie spielen sich ab: Männer schlagen mit riesigen Hämmern auf einen Block und ein Manometer schnellt in die Höhe. Ein Mann trifft schon das fünfte Mal in Folge nicht. Gleich zieht er dem Hammerverleiher den Hammer über – weil das kann ja nicht wahr sein! Seine Freundin hält ihn davon ab. Beim sechsten Versuch trifft er endlich, der Manometer schlägt oben an, Gewinn! Den Preis (eine Rose aus Plastik) überreicht er seiner Mutter „nachträglich zum Muttertag“. Sie winkt ab.
Seinen Magen sucht man sich nicht aus
Ein ungefähr 16-Jähriger sitzt im Kartenhäuschen eines Fahrgeschäftes, in dem Menschen in Zweier-Gondeln auf einer Scheibe und um ihre eigene Achse gedreht werden, und redet den Kreischenden per Mikrofon gut zu. Der Effekt macht, dass seine Stimme klingt, wie die jedes Rekommandeurs seit Beginn der Rummelzeitrechnung: "Der absolute Wahnsinn, let's do it! Attacke Baby, Finale! Endspurt! Absturz!" Dazu das Geräusch, das klingt wie die Hupe der AIDA.
Smartphones und Sneaker fallen aus Kotzmühlen und verfehlen knapp Köpfe. Eiskugeln stürzen aus Waffeln und bringen Kinder zum Weinen. Es wird geschrien und einander gesucht. Manche kotzen, andere sind stoisch. Was willst Du machen? Seinen Magen sucht man sich nicht aus.
Eine Band aus 100-Jährigen spielt drei Stunden lang Classic Rock Hits. Ein einziger Fan tanzt. Menschen wie ich erinnern sich an ihre Höhenangst – als sie schon in 15 Metern Höhe sind. Es wird sich an Metallbügeln und Liebsten festgekrallt.
Am Ende meiner Fahrt mit der „Wilden Maus“ kann ich für sieben Euro ein Foto erwerben, das mich mit Fahrtwind im Gesicht und gefühlt dem Tode nahe zeigt. Aber ich habe überlebt! Dankbar gehe ich am Abend ins Bett und treffe in den nächsten Tagen noch oft Leute, die ihr Souvenirfoto von der Achterbahnfahrt wie eine Medaille laminiert um den Hals tragen.
Lasset die Gesichter entgleisen!
Vielleicht wäre das ja was fürs Theater! Statt immer Abendzettel, die zuhause in Ablagekisten oder im Papiermüll verschwinden, einfach mal am Ausgang ein Foto von der eigenen Zuschauer:innenperformance erwerben – „huch, bin wohl schon wieder eingeschlafen!“ – und dann den Freund:innen stolz zeigen: „Jaja genau, das war damals bei Maria Stuart!“
Die Challenge für die Theatermacher:innen wäre dann, ihr Publikum in die größtmöglichen Zustände zu versetzen. Die Gesichter sollen ihnen entgleisen! Fühlen sollen sie etwas! Na los!