"Sicherheit gilt nur noch für diejenigen, die drin sind"
Eurosur und Frontex dienen der Sicherung der EU-Außengrenzen, aber nicht der Seenotrettung von Flüchtlingen, sagt der Theaterregisseur Hans-Werner Kroesinger. Jetzt kommt sein Stück "FRONTex SECURITY" über Europas Abschottung auf die Bühne.
Frank Meyer: Seit einigen Tagen ist das neue europäische Grenzüberwachungssystem Eurosur in Betrieb. Damit sollen auch Katastrophen wie die im Oktober vor Lampedusa verhindert werden – dort waren mehr als 360 Menschen gestorben. Das sagen zumindest die Befürworter von Eurosur. In Berlin hat heute ein Theaterstück Premiere, das sich mit dem Überwachungsregime an Europas Außengrenzen auseinandersetzt und den Folgen für die Flüchtlinge. Wir reden gleich mit dem Regisseur Hans-Werner Kroesinger über dieses Stück, vorher ein kurzer Einblick.
Benedikt Schulz war gestern für uns bei der Generalprobe.
"FRONTex SECURITY" von Hans-Werner Kroesinger, heute hat dieses Stück am Berliner Theater HAU Premiere, und Hans-Werner Kroesinger ist jetzt hier bei uns im Studio, seien Sie herzlich willkommen.
Hans-Werner Kroesinger: Vielen Dank.
Meyer: Vor Lampedusa gab es im Oktober diese große Tragödie, das Unglück, bei dem mehr als 360 Menschen ertrunken sind. Als das passierte, haben Sie schon an diesem Stück gearbeitet. Wie hat das Ihre Arbeit verändert?
Kroesinger: Na ja, das ist halt … Das ist schon interessant, wenn so was passiert. Es gab ein riesiges Medienecho. Also wir alle erinnern uns an diese Schlagzeilen, die es gab, Cover von der Süddeutschen, "Europas Schande", "Die Zeit", Sonderberichte, Brennpunkt – aber das ist ja nicht zum ersten Mal passiert. Also im Mittelmeer ertrinken die Leute schon seit Jahren. Man geht davon aus, dass in den letzten zehn Jahren wahrscheinlich 15.000 bis 20.000 Leute ertrunken sind. Das heißt, es gibt immer wieder diese temporären Ereignisse, die das Ganze dann mal kurz in den Fokus der Öffentlichkeit stellen, aber wenn man sich dann anschaut, was konkret danach passiert, ist es relativ wenig, was im Interesse der Leute, die sich da auf den Weg machen, um mit dem Schiff übers Mittelmeer zu kommen.
Und das hat uns dahingehend beeinflusst, dass wir … Ich kann es vielleicht ganz kurz beschreiben: Wir hatten den Fall eines Somaliers drin, weil wir haben vorher ein Stück über Somalia gemacht, und haben den Weg, die Route eines Somaliers verfolgt, von Somalia nach Lampedusa, und von da weiter nach Europa bis nach Deutschland. Der war drei Jahre unterwegs. Das war eine Sequenz, die im Stück war. Dann haben wir jetzt bei den Recherchen, weil wir immer aktuell beobachten, was an neuen Informationen reinkommt.
Eine Woche nach Lampedusa setzt ein Flüchtlingsboot nach Syrien, ist unterwegs und befindet sich in einer Region zwischen Malta und Italien und gerät in Seenot ‒ gerät in Seenot, weil sie von einer libyschen Patrouille beschossen werden. Das Schiff ist leck. Der Arzt – alle haben Satellitentelefone dabei – ruft bei den italienischen Küstenbehörden an und sagt, wir sind in Seenot, Sie müssen uns retten. Es passiert nichts, eine Stunde. Er ruft nach einer Stunde noch mal an, den gleichen Beamten am Apparat, dann sagt der ihm: "Wir sind nicht zuständig für Ihre Region. Sie sind zwar näher an Italien, aber Ihre Region ist die Search-and-Rescue-Zone Malta."
Meyer: "Sie gehen unter, aber wir sind nicht zuständig."
Kroesinger: Genau. Und was dann passiert: Die Malteser, die viele Meldungen reinbekommen, machen sich auf den Weg, kommen an – das Schiff ist gesunken. Das passiert exakt eine Woche nach Lampedusa, nach dem großen Unglück, wo wir alle diese wunderbaren Reden gehört haben, wie traurig das ist und dass man jetzt da ganz dringend etwas tun wird – und man tut nichts. Das heißt, dieses Schiff geht unter im Zuständigkeitswirrwarr zwischen Italien und Malta.
Meyer: Aber diesmal sollte ja etwas getan werden, und ich habe dieses neue Programm schon erwähnt, Eurosur. Da sagen zumindest die, die für dieses Programm eintreten und dafür werben, zum Beispiel die EU-Innenkommissarin Malmström, dass Eurosur gerade dazu dienen soll, solche Unglücke zu verhindern. Nach Ihren Recherchen zu diesem Grenzüberwachungsregime, glauben Sie, dass damit wirklich etwas gegen solche Unglücke getan wird?
Kroesinger: Na ja, also Eurosur ist kein Programm, was man jetzt gerade erfunden hat, Eurosur, da wird seit Jahren dran gearbeitet. Und das Interessante an Frontex ist: Es ist keine Agentur für Seenotrettungsgesellschaft. Das heißt, der Auftrag von Frontex ist ganz klar: Es dient zur Koordination des Schutzes der Sicherung der Außengrenzen. Und Seenotrettung ist dann vielleicht ein Nebenprodukt, ein Abfallprodukt, aber die Programme, die entwickelt werden, dienen jetzt nicht dazu, dass man die Schiffe dann sicher in italienische Häfen geleitet oder in einen anderen europäischen Hafen.
Worum es da geht: Wir haben Aufnahmen gesehen von diesen Satelliten, Aufnahmen von den Booten, und die Aufnahmen sind mittlerweile so gut – Sie können die Farben der Pullover erkennen, was die Leute anhaben. Das heißt, die Koordination … Das Problem liegt darin: Sobald ein Boot ausgemacht wird, müsste jetzt jemand sich auf den Weg machen, um diese Leute zu retten. Aber das werden Sie wahrscheinlich auch wissen: Es gibt diese Pushback-Operation. Das heißt, ganz viele von diesen Booten – obwohl sie schon bereits relativ nah an der europäischen Küste sind – werden dann umgeleitet nach Libyen oder nach Tunesien, und das ist jetzt erst mal mir nicht so schnell verständlich, warum Eurosur dann jetzt das große Seenotrettungsprogramm der EU werden wird.
Meyer: Sie haben sich jetzt viel mit diesem Thema beschäftigt, Sie haben Akten gewälzt der Europäischen Union zu diesem Thema, sich das angeschaut alles. Jetzt haben Sie ein Theaterstück daraus gemacht. Wie müssen wir uns das vorstellen? Ist das eine Art Agitation dafür: Wir dürfen diese Menschen da nicht untergehen lassen im Mittelmeer, wir müssen die alle reinlassen?
Kroesinger: Nein, das wäre schade, also wenn es ein Agitationsstück wäre, dann wäre es unsinnig gewesen, so viel Zeit damit zu verbringen, also weil das ist … Die Recherche läuft jetzt schon seit über einem Jahr. Und worum es uns ging: Ich habe ein Stück gemacht über die Frage des deutschen Asyls im Zusammenhang mit einem Asylbewerberheim in Würzburg, und stieß da zum ersten Mal auf diese Agentur Frontex. Und Frontex ist ja jetzt keine anonyme Größe, sondern Frontex ist eine Agentur, die im Auftrag der Europäischen Union handelt.
Und wir haben dann einfach versucht, mal zu schauen: Was ist an Informationen verfügbar, wenn man anfängt zu suchen? Was sind öffentliche Informationen, die man zur Arbeit dieser Agentur hat? Die haben wir montiert. Und was wir jetzt machen, ist, in der Anmoderation ist es ja so ein bisschen beschrieben worden: Wir versuchen, die Eigenaussagen der Agentur – das sind Informationen von der Website, Interviews, die mit Frontex-Beamten geführt wurden, es gibt eine Seite "Watchfrontex" –, unterschiedlichste Materialien und Quellen gegeneinanderzusetzen, um ein Spannungsfeld zu erschaffen, was den Zuschauer dazu bringt, sich selbst zu positionieren, weil es ist sehr erstaunlich: Wenn Sie …
Meyer: Entschuldigung: Was genau ist dieses Spannungsfeld?
Kroesinger: Na ja, das Spannungsfeld ist, dass die … Ich kann es Ihnen an einem ganz kleinen Beispiel deutlich machen. Sie haben EU-Papiere, da heißt es: "Die EU ist ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" – und auf einmal verschiebt sich das und dann ist die EU plötzlich ein Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts. Und genau in dieser kleinen Verschiebung im Terminus der Sicherheit liegen die unabsehbaren Folgen, weil plötzlich wird die Sicherheit das wichtigste Gut innerhalb der EU selbst, freier Binnenverkehr, Sicherheit für die Bürger – hat zur Folge anscheinend, dass eine Außengrenze immer weiter aufgerüstet werden muss. Das heißt, Sicherheit gilt nur noch für diejenigen, die drin sind, und nicht für die, die draußen sind.
Und jetzt kriegen wir ein Problem mit der Frage des Asyls, mit der Asylfrage, weil: Wie ist es, wenn Flüchtlinge unterwegs sind, die eigentlich berechtigt wären, innerhalb von Deutschland einen Asylantrag zu stellen? Die kommen aber gar nicht mehr an, weil Deutschland umgeben ist nach dem Dublin-II-Abkommen von einem Ring von sicheren Drittstaaten, das heißt, die Leute erreichen Deutschland gar nicht mehr. Und das Asylrecht ist keine einheitliche Größe in Europa. Das Asylrecht ist überall anders geregelt.
Meyer: Das, was die EU dazu sagt – wir haben es vorhin in unserem kleinen Beitrag gehört, das sind diese Aktenprotokolle, die man da hört. Jetzt haben wir aber auch anderes gehört, nämlich eine Sängerin, eine Opernsängerin, die da Arien von Christoph Willibald Gluck singt. Was hat die zu suchen in Ihrem Stück?
Kroesinger: Na, das ist ein Vorschlag, der Musiker kam auf die Idee, und zwar Daniel Dorsch, weil wir haben uns gefragt: Europa steht ja auch so als Wiege der Kultur und es gibt so einen großen Kulturanspruch, und die Oper gilt als eine der kulturellen Höchstleistungen, die Europa hervorgebracht hat, und es gibt halt zwei Opern, wo sich genau mit dieser Frage des Asyls in der Antike beschäftigt wird. Und wir haben gedacht: Was passiert, wenn wir jetzt diese nüchterne Aktensprache, die teilweise nur aus Kürzeln besteht – wenn Sie die Originalpapiere lesen, sind die teilweise überhaupt nicht verständlich –, kontrastieren das mit sehr harten Schnitten mit Arien aus genau diesen Opern, und plötzlich entsteht ein Spannungsfeld und eine Reibung zwischen einem Wohlklang, zwischen einem schönen Gesang und einem absolut grausamen Inhalt.
Meyer: Was stellen Sie sich denn vor, was bei einem Zuschauer passiert, der diese, Ihre Arbeit sieht, der diese Aktenstücke hört, diese Oper hört, der mit diesen Geschichten konfrontiert ist? Was können Sie sich vorstellen, was das macht mit dem Zuschauer?
Kroesinger: Na, man weiß nie genau, was beim Zuschauer passiert, er ist ja glücklicherweise so eine unberechenbare Größe. Aber ich glaube, was auf jeden Fall passiert: Der wird zunächst mal überfordert sein, aber auch gefordert sein, weil in der Fülle von dem Material und von den Erfahrungen und Erlebnissen, die er hat in dieser Situation, wird er sich ganz schnell positionieren müssen, weil er wird sagen: Diese Information ist für mich relevant, das nicht, das verstehe ich, das kann ich nachvollziehen – und so kommt vielleicht ein Prozess in Gang, dass man, wenn man das nächste Mal auf diese Agentur stößt, Frontex, oder wenn man das nächste Mal liest, Eurosur, ein Seenot-Rettungsprogramm, dass man sehr viel aufmerksamer wird, was da eigentlich verhandelt wird und was hinter diesen scheinbar neutralen Informationen steht.
Meyer: "FRONTex SECURITY", heute ist die Premiere am Berliner Theater HAU, weitere Vorstellungen dann am 14. und 15. Dezember und vom 18. bis 21. Dezember. Hans-Werner Kroesinger, der Regisseur, war bei uns. Ganz herzlichen Dank.
Kroesinger: Vielen Dank für Ihre Einladung.
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