Das Theaterfestival "Industriegebietskinder" in Halle (Saale) geht noch bis zum 7. Juni 2015. Mit daran beteiligt sind außerdem Dortmund und Berlin – insgesamt drei ehemalige Industriestandorte in drei verschiedenen Bundesländern. Mehr zum Festival auf der Webseite der Bühnen Halle.
Die Zukunft nach dem Industriezeitalter
Halle-Neustadt, Dortmund-Hörde, Berlin-Oberschöneweide: Beim Festival "Industriegebietskinder" erzählen Theatermacher aus diesen drei Städten vom Niedergang der dortigen Industrie und den Folgen. Die Stücke zeigen, dass diese in Ost und West sehr unterschiedlich sind.
Halle-Neustadt, Dortmund-Hörde und Berlin-Oberschöneweide: Drei Orte, die Industriegeschichte geschrieben haben. Drei Orte, an denen Industrie nur noch Geschichte ist. Zweimal Ost, einmal West.
Im vergangenen Jahr ist Halle-Neustadt 50 Jahre alt geworden. In der DDR wurde es als sozialistisches Großprojekt gefeiert – eine moderne Wohnstadt für die Chemiearbeiter aus Leuna und Buna. Helle Plattenbauten mit Heizung und Warmwasser.
Mit der Wende verlor Ha-Neu, wie Halle-Neustadt hier genannt wird, seine Attraktivität genauso wie die Hälfte seiner Einwohner. 90.000 lebten hier noch in den 80er-Jahren. Jetzt wird das Bild vor allem von alten Menschen geprägt, von Langzeitarbeitlosen, Migranten und vielen Kindern getrennter Familien.
Szene aus dem Stück "NEU STATT STERBEN": "Der Zerfall dieser Familien zeigt sich bei den Kindern in Halle-Neustadt an einer Vielzahl von Krankheiten des modernen Kindes. Grammatik-Probleme, Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrome, Hyperaktivität, die Neigung, sich selber zu verletzen."
Zerfallene Familien, zerfallene Lebenswelten – und mittendrin die Kinder der ehemaligen Chemiearbeiter: Industriegebietskinder ohne Orientierung und oft ohne Perspektive.
Katharina Brankatschk: "Und das ist eben das, was mir die Menschen, die früher in Ha-Neu gelebt haben, mit großem Bedauern schildern, dass – was auch im Stück thematisiert wird – dass eben damals war so'n Wohnblock absolut durchmischt, da gab's die Intelligenzia und die Arbeiterklasse und es gab sicher auch einige, die größere Probleme hatten. Aber wenn sich das jetzt alles auf einmal ballt, das empfinde ich als ungesund."
Alfred Krupp kümmert sich schon lange nicht mehr
Katharina Brankatschk hat das Stück zu Halle Neustadt geschrieben, das jetzt auf dem Festival läuft, und ihm den zweideutigen Titel "NEU STATT STERBEN" gegeben. Zwischen Pionierliedern und historischen Exkursen arbeitet sie sich durch die gesamte Entwicklung des Viertels. Dadurch wirkt "NEU STATT STERBEN" über weite Strecken wie eine Geschichtsstunde mit dem altbekannten Schuss DDR-Nostalgie-Humor. An diesen Klischees leidet die Inszenierung.
Das Pendant zu Ha-Neu im tiefen Westen heißt zum Beispiel Dortmund-Hörde. Mit dem vergangenen Jahrhundert hat auch das Phönix-Stahlwerk seine Pforten geschlossen. Wo 15.000 Menschen arbeiteten, plätschert heute der Phönix-See still vor sich hin.
Szene aus dem Stück "Ach je die Welt": "Denkt Alfred Krupp und seinesgleichen denn noch an unsere Ausbildungsplätze? Nicht dass es ihm in diesem Jahrhundert nur um den Hund geht? Was wird aus unserer Zukunft, wenn er sich nicht drum kümmert? Was wird aus unserer Zukunft?"
Alfred Krupp und seinesgleichen kümmern sich schon lange nicht mehr. Als das Stahlwerk geschlossen wurde, brach das der Gegend fast das Genick.
"Und nun versucht die Stadt Dortmund, da neue Impulse zu setzen, neue Investoren hinzulocken und auch Leute, die da hinziehen. Was gut gelingt."
Das Stück dreht sich um die Fragen der Jugend
Andreas Gruhn ist mit der Dortmunder Inszenierung "Ach je die Welt" angereist. Am meisten hat ihn während der zweijährigen Arbeit überrascht, wie unterschiedlich der Wegfall der industriellen Arbeit die Städte in Ost und West prägt.
"In Ha-Neu, wenn ich das richtig mitbekommen hab, da ist eigentlich Kahlschlag, da entsteht auch nichts Neues. Und in Berlin, da ist es schon wieder so, dass die Leute sagen: War hier mal was? Das heißt, es sind wirklich drei sehr unterschiedliche Orte und was ich sehr spannend finde: Dass die Träume, die Hoffnungen, die Wünsche der Jugendlichen, mit denen wir uns auseinander setzen, dass die gar nicht so weit auseinander liegen."
Das Stück "Ach je, die Welt" dreht sich denn auch um die zentralen Fragen der Jugend: Werde ich Arbeit haben? Werde ich jemanden finden, der mich liebt? In dieser Inszenierung zeigt das Dortmunder Kinder- und Jugendtheater, wie man reale Geschichte so weiter drehen kann, dass daraus Kunst wird. Bühnenkunst mit feinem Witz, weitläufigen Assoziationen und brillantem Schauspiel.
Wie in Halle und Dortmund entwickelt sich auch in Berlin-Oberschöneweide die Zukunft der Industriegebietskinder an den Ufern von gefluteten Werksgeländen, rückgebauten Hochhäusern oder Industriehallen, die still auf ihre neue Bestimmung warten. Anfang der 90er-Jahre wurden hier die Betriebe abrupt geschlossen. Begriffe wie KWO – Kabelwerk Oberspree - oder WF – Werk für Fernsehelektronik - sind Geschichte.
Jörg Steinberg, Regisseur der Berliner Inszenierung "The Working Dead":
"Man hat mal das Gefühl, da soll mal die Uni hin, dann scheint sich was zu bewegen. Dann hat Brian Adams 'ne Halle gekauft. Dann heißt es, die Welt guckt auf uns, aber da passiert gar nichts, überhaupt nichts."
Eigentlich hatte das Industriezeitalter in Berlin ja schon vor 100 Jahren Hochkonjunktur. Und so sind die Jugendlichen von heute eher die Industriegebietsenkel oder sogar -urenkel. Mit dem Arbeitsleben ihrer Vorfahren können sie kaum noch etwas anfangen. Und trotzdem zeigen alle Produktionen, egal ob Ost oder West, wie unzertrennbar die Industriegebietskinder und Kindeskinder mit der Geschichte ihrer Region verwoben sind.