Inklusion als überholte Kategorie
Theater abseits des Mainstreams, so ließe sich das Programm des "No limits"-Festivals beschreiben. Dass die Szene inzwischen mit dem Begriff Inklusion hadert, der vor allem die Unterschiede betont, zeigt der schrittweise Perspektivwechsel, der das Ungewohnte zulässt, ohne es auszustellen.
Ohne 3D-Brille geht bei der norwegischen Theaterkompanie De Utvalgte gar nichts. Ihre Bühnenbilder bestehen aus beeindruckenden Landschaften und Szenerien: Ob die schwarzen Tiefen des Weltraums, schneebedeckte Berge, badende Nilpferde in dreckigem Wasser oder gedemütigte Soldaten, die nackt durch Schlamm kriechen müssen – immer ziehen die riesigen, dreidimensionalen Projektionen den Zuschauer tief hinein in ihre Bilderwelt.
In "Der Visionär", einer von zwei Theaterproduktionen, die die Norweger bei No Limits gezeigt haben, verschränkt Regisseurin Kari Holtan in einer wilden Collage die Geschichte eines unter dem Krieg leidenden Bauernehepaares aus dem 18. Jahrhundert mit dem norwegischem Nationalismus von Heute. Wer sind die Visionäre unserer Zeit, fragt diese Inszenierung und macht dabei starkes, bildgewaltiges, anspielungsreiches Theater – mitunter auch verwirrend für den, der mit den norwegischen Gepflogenheiten nicht so vertraut ist.
"Der Visionär" könnte auch auf einem Festival zu gutem politischem oder formal-experimentellem Theater gezeigt werden; ins Konzept von No Limits passt es wegen Rebekka Joki. Die professionelle Schauspielerin hat das Down-Syndrom und eine der vier Hauptrollen in "Der Visionär" übernommen.
Ist das Stück wegen der mühelosen Einbindung einer Darstellerin mit geistiger Behinderung nun ein besonders gelungenes Beispiel für das sogenannte Inklusionstheater? Bei Marcel Bugiel, Dramaturg, Mitorganisator und Kurator von No Limits, stellen sich schon bei der Frage die Nackenhaare auf.
"Ich finde, dieses Wort 'Inklusionstheater' ist ein Unding und ein Widerspruch in sich, weil es Inklusion schon wieder zu einem Spezialgebiet macht – was auch ganz oft so ist. Also man sagt, das ist ein 'inklusives Festival' und das ist eben was, was wieder genau nicht inklusiv ist, sondern was dann wieder eine Sonderabteilung ist. Und eigentlich, theoretisch und streng genommen, wenn es inklusiv wäre, dann wäre die Gesellschaft inklusiv und dann gäbe es diese Kategorie nicht mehr.
Menschen mit Behinderungen in leitenden Positionen
Weil es Inklusion bisher nur als theoretischen Begriff und in der Wirklichkeit an ausgesuchten Stellen, aber nicht flächendeckend gibt, zeigt No Limits – nach eigener Aussage und in leichter Sprache formuliert – "das, was im Theater neu und interessant ist" und "in welcher Form Menschen mit Behinderung Teil davon sind".
Gerade beim letzten Punkt hat sich etwas geändert; denn während viele renommierte "inklusive" Theatergruppen immer noch von nicht-behinderten Regisseuren geleitet werden, gibt es inzwischen auch Beispiele, in denen Menschen mit Behinderungen leitende Positionen besetzen. Wie zum Beispiel der Österreicher Michael Turinsky. Er ist Performer, Choreograf und Theoretiker – mit Körperbehinderung. Bei No Limits zeigt er sowohl ein beeindruckendes Solo als auch ein Gruppenstück, in dem er seine spezifischen Bewegungsmuster mit krampfhaften Zuckungen auf nicht-behinderte Tänzer überträgt.
Auch Turinsky beschäftigt sich in seinen Texten damit, wie man Theater und Tanz mit oder von behinderten Menschen nennen soll. Und auch er bezweifelt, dass Inklusion die richtige Bezeichnung ist; stattdessen schlägt er den Begriff non-aligned – nicht abgestimmt oder nicht ausgerichtet – vor.
"Es gibt ja das englische Wort 'aligned', mir gefällt irgendwie die Rede vom 'non-aligned dance', die finde ich eigentlich ganz schön, weil sie verschiedene Form der Choreografie meint, die irgendwie abweichen von der ordentlichen Ausrichtung sozusagen."
Gutes, beeindruckendes und auch provokantes Theater
Abweichungen von der ordentlichen Ausrichtung und damit von der Norm gibt es auch bei dem serbischen Theaterkollektiv Per Art. Die für ihre experimentelle Theaterarbeit bekannte Gruppe aus Novi Sad erarbeitet Inszenierungen auf der Grundlage von Texten ihrer Autorin Natalija Vladisavljevic, einer Schriftstellerin mit Down-Syndrom. Milena Bogavac, Dramaturgin bei Per Art.
"Natalija Vladisavljevic schreibt, seit sie ein kleines Mädchen ist. Eine Weile verfolgte sie die künstlerische Strategie des 'Kopierens'. Sie hat einfach alle Texte, die sie zum Thema Theater in Zeitungen, Magazinen und Enzyklopädien finden konnte, kopiert und gesammelt. Daraus entstand eine sehr interessante Ausstellung, die ein fast vollständiges Bild des institutionellen Theaters in Serbien vermittelte. Später begann sie, eigene Texte zu schreiben; Gedichte und Kurzgeschichten, die vor allem von Tanz- und Theaterworkshops inspiriert waren und die schließlich zur Grundlage für Performances wurden. Heute ist Natalija Vladisavljevic in Serbien nicht nur eine ganz besondere, sondern auch wichtige Theaterautorin."
Es ist nicht übertrieben, das, was bei No Limits stattfindet, als schrittweisen Perspektivwechsel zu bezeichnen. Denn das Festival kann nicht nur jenen Zuschauern empfohlen werden, die sich für Theater mit oder von Behinderten interessieren – sondern allen, die gutes, beeindruckendes und auch provokantes Theater abseits des Mainstreams suchen. Ein Theater, das zum Beispiel eine ungewohnte Sprechweise oder einen nicht-normierten Körper in seiner spezifischen Qualität auf der Bühne einsetzt; das Ungewohnte, Andere zulässt, ohne es auszustellen. Und das, was an Neuem dabei entsteht, zur Geltung kommen lässt.