Theaterfrühling in Berlin

Russisches Theater als Widerstandsort

Szene aus dem satirischen Stück "BerlusPutin" im Theater.doc in Moskau im Februar 2012
Kein Raum für Satire: Auch das freie Theater.doc in Moskau hat es schwer. Hier eine Szene aus dem Stück "BerlusPutin". © dpa / picture alliance / Maxim Shipenkov
Von Elisabeth Nehring |
Die russische Autorin Sasha Denissowa hat ihre Polit-Satire "Alice und der Staat" in Berlin vorgestellt - ein Stück, mit dem sie in Moskau stark provoziert. Das russische Kulturministerium reagiert auf Stücke kritischer Theatermacher zunehmend nervös.
Eigentlich möchte Alice einfach nur eine Prüfung über die Grundfunktionen des Staates im Fach Wirtschaft ablegen. Doch plötzlich steht die kluge Studentin vor einem riesigen, schwarzhaarigen Richter, der sie zum Tode verurteilt. Ihre These, der Staat solle kommen und gehen wie der Mond, aber auf keinen Fall ständig präsent sein, hat sein Missfallen erregt – immerhin ist es seine Aufgabe, die Ideen und Gedanken aller Bürger zu kontrollieren.
Die russische Autorin Sasha Denissowa mixt in ihrer famosen Satire "Alice und der Staat" wissenschaftliche Ausführungen über die Möglichkeiten und Grenzen der Zivilgesellschaft mit absurder Situationskomik rund um korrupte Bürokraten-Kaninchen, palavernde Polit-Raupen und teetrinkende Intellektuelle.
"Als ich das Stück vor zwei Jahren schrieb, habe ich nicht daran gedacht, eine politische Satire auf die Bühne zu bringen. 'Alice und der Staat' sollte als soziales Projekt das Publikum bilden und aufklären. Aber plötzlich hat die Realität uns eingeholt: Es wurden all diese Gesetze geschaffen, die die Kunst sanktionieren und künstlerische Freiheiten einschränken. Dazu kam der Krieg mit der Ukraine. Ich habe das Skript ständig umgeschrieben und der Realität angepasst - bis es zu einer Satire wurde."
Neuer Stern am russischen Theaterhimmel
Sasha Denissowa, jung, blond und selbstbewusst, wird seit ihrer 'Alice'-Inszenierung am renommierten Moskauer Meyerhold-Zentrum als neuer Stern am russischen Theaterhimmel gehandelt. Während das Meyerhold-Zentrum noch ungehindert politische Satiren auf die Bühne bringen kann, trifft der Beobachtungseifer der russischen Behörden derzeit das kleine Theater.doc besonders hart. Bereits vor einem halben Jahr wurde ganz unerwartet der Mietvertrag der Spielstätte mitten in Moskau gekündigt und gerade hat Direktorin Elena Gremina erfahren, dass auch ihr neues Domizil wegen angeblicher Baumängel schon wieder geschlossen werden soll. Warum gerade das Theater.doc im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, wo es als freie Spielstätte keinen Pfennig Unterstützung vom russischen Staat erhält und von einem keineswegs nur politisch ausgerichteten Spielplan lebt, ist auch für die Leiterin ein Rätsel.
"Letztens wurde ich vom Inlandsgeheimdienst FSB zu einem Verhör eingeladen. Diese Leute haben mich tatsächlich gefragt, warum ich glaube, dass das Theater.doc so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Da habe ich geantwortet: 'Das müssen Sie mir sagen, wir arbeiten ja nicht politisch und auch mit keiner Partei zusammen.' Der ganze Vorgang blieb völlig schleierhaft und undurchschaubar. Vielleicht wollten sie damit einfach nur psychischen Druck ausüben."
Gesetzentwurf sieht Werktreue vor
Die jüngste Attacke des russischen Kulturministeriums auf die künstlerische Freiheit ist ein Gesetzesentwurf, der Regisseuren Werktreue vorschreiben will. Tritt dieses Gesetz irgendwann in Kraft, dürften klassische Stoffe nicht mehr neu interpretiert, sondern nur noch wie im 18. oder 19. Jahrhundert inszeniert werden. Ein weiterer Schritt in der reaktionären Bewegung, die die russische Kultur gerade durchläuft. Theatermacherin Elena Gremina sucht nach Gründen:
"Warum die Repressalien ausgerechnet im letzten Jahr stärker geworden sind, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich hängt diese Entwicklung mit den politischen Ereignissen der letzten beiden Jahre zusammen: Mit dem Krieg in der Ukraine und dem gesamten antiwestlichen Kurs, der in Russland ausgerufen wurde. Alles, was reformistisch oder experimentell wirkt, wird heute unterdrückt. Bis vor kurzem konnte man sich die Stimmung, die jetzt herrscht, nur ganz schwer vorstellen. Junge Regisseure und Dramaturgen bekamen viel Unterstützung; es gab staatliche Förderprogramme und sogar 'Laboratorien', in denen sich junge Theatermacher austoben konnten. Daraus ist unsere sehr vielfältige Theaterlandschaft entstanden."
Derzeit haben kritische Theatermacher in Russland nur die Möglichkeit, sich über die Sozialen Medien und damit an den Behörden vorbei zu organisieren. Und es bleibt die Hoffnung auf Solidarität der westlichen Kollegen; denn, so beteuern alle Betroffenen, künstlerischer Austausch und gegenseitige Einladungen seien wirksamer als Boykotte aus politischen Gründen.
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