Die ganze Sendung "Rang 1" widmet sich den Ereignissen in Chile. Darin geht es auch um eine Theaterperformance des chilenischen Kollektivs "Las Tesis", das mit einem Protestsong gegen Gewalt gegen Frauen weltweit für Aufmerksamkeit sorgte. Das Team von Las Tesis war gerade zu Gast beim internationalen Theaterfestival Santiago A Mil. Nach der Performance hat Redakteurin Susanne Burkhardt die Künstlerinnen getroffen und mit ihnen darüber gesprochen, wie ihre Aufführung so einem Massenphänomen werden konnte. Die ganze Sendung hören Sie hier.
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"Wir leben gerade in einem totalen Horror"
12:07 Minuten
Seit Monaten werden die Proteste in Chile von massiver Polizeigewalt begleitet. Mehr als 30 Menschen sind bereits gestorben. Warum die Krise im Land die Theaterschaffenden vereint, erklärt der Autor und Regisseur Guillermo Calderón.
Seit Oktober wird in Chile demonstriert, gegen soziale Missstände, zu niedrige Renten und ungleiche Bildungschancen. Die Regierung von Präsident Sebastian Pinero reagiert mit Tränengas und Gummigeschossen auf die Proteste, sodass es schon Tote und Verletzte gab. Wie also umgehen mit der Krise, wie Theatermachen, fragen wir den in Chile wohl bekanntesten Theaterautor- und regisseur, Guillermo Calderón.
Susanne Burkhardt: War vorherzusehen, was jetzt in Chile geschieht?
Guillermo Calderón: Die Situation, die wir gerade erleben, war lange vorherzusehen. Das haben verschiedene soziale Bewegungen und auch die Künste, vor allem das Theater, immer wieder thematisiert. Von der Diktatur ist uns ein Trauma geblieben: das Trauma radikaler Gewalt gegen die chilenische Bevölkerung. Dennoch aber entschieden sich viele, einfach weiterzumachen. Man warf sich dem Neoliberalismus in die Arme und setzt auf Moderne und Individualismus.
Die Theatermacher aber erinnerten immer wieder an das Trauma der Vergangenheit und daran, wie sehr das ökonomische und politische System der Diktatur noch immer das Land beherrscht. Die politische Krise lag immer in der Luft. Und jetzt, wo die Leute sich auflehnen gegen soziale Ungerechtigkeit, verhält sich die Regierung wie eine Diktatur: Sie schickt das Militär, um die Proteste zu kontrollieren. Der Präsident spricht im Fernsehen von einem "Krieg", der geführt wird und nennt die Demonstranten den "Feind". Er ermutigt damit Soldaten und die Polizei, Leute zu töten. Mehr als 30 Menschen sind bereits gestorben, 300 wurden die Augen ausgeschossen. Das alles ist sehr brutal und absolut traumatisch.
In all den Jahren hieß es von verschiedenen Seiten: "Warum hört ihr nicht auf, darüber immer wieder zu reden? Wozu immer wieder diese Politikthemen? Schaut nach vorne. Das ist alter Kram." Einige haben sich dann eher mit ästhetischen Themen befasst statt mit Politik. Aber jetzt sehen wir, dass wir Recht hatten – und das ist schrecklich. Es wäre besser, wir hätten uns geirrt, aber leider hatten wir Recht.
Theatrale Proteste
Susanne Burkhardt: Aber wenn Sie so viel vorausgesehen haben, dennoch aber nichts verhindern konnten – wie wollen und können Sie weitermachen, ohne deprimiert zu sein?
Guillermo Calderón: Eigentlich geht das nicht. Das Theater hat hier völlig versagt. Wenn ich meine Freunde treffe bei den Demonstrationen, Freunde vom Theater – dann fragen wir uns: "Was machen wir jetzt?" Wir haben gerade nichts Interessantes beizutragen. Diese Proteste sind so theatral, es gibt unglaublich viele Leute, die da performen, es wird getanzt, musiziert.
Das Ganze ist die beste Performance, die du dir vorstellen kannst. Das Theater wirkt dagegen sehr bescheiden: Eigentlich sind wir ja nur kleine Gruppen, die sich hinter den Scheinwerfern verstecken. Wir spielen für ein Publikum, das wenig mit dem zu tun hat, was auf der Straße los ist. Für uns ist das ein ästhetisches und ein politisches Problem. Alle Stücke, die wir noch vor drei Monaten inszeniert haben, erscheinen uns plötzlich total überaltert und von der Geschichte überholt.
Das neue Stück, über das, was gerade hier in Chile passiert – das muss erst noch geschrieben werden. Im Moment können wir nichts weiter tun, als auf die Straße zu gehen und gegen diese Regierung zu demonstrieren. Was man daraus künstlerisch machen könnte – das müssen wir dann sehen.
Sexualisierte Übergriffe auf Frauen
Susanne Burkhardt: Sie haben auch Texte geschrieben für eine Koproduktion mit dem Theater Heidelberg. "Die Zauberflöte", inszeniert von Anto Romero Nunes. Die Texte sind auch von den Protesten in Chile beeinflusst, inwiefern?
Guillermo Calderón: Ich war erst mit Antú im Gespräch über diese Arbeit. Sein Ausgangspunkt war die großartige Musik von Horacio Salinas, einem Mitglied der chilenischen Gruppe Inti Ilimani. Die sind sehr stark mit der politischen Geschichte Chiles verbunden. Antú wollte mit all den Mythen aufräumen, die im Zusammenhang mit Mozarts Version der "Zauberflöte" auftauchen.
Als wir anfingen, uns zu schreiben – er aus Deutschland, ich von hier – begannen hier die Demonstrationen, und wir waren uns einig: Wir müssen das reinbringen. So kamen wir auf eine junge Frau, die gekidnapped wurde, die verschwunden ist, denn während der Proteste gab es immer wieder Übergriffe vor allem auf junge Frauen, auch sexuelle Übergriffe durch die Polizei. Das wollten wir mit ins Stück reinbringen. Dazu traditionell chilenische politische Folk-Musik. Ich glaube, das wird für das Publikum hier eine starke politische Bedeutung haben.
Susanne Burkhardt: Aber gerade noch haben Sie gesagt, Theater ist gescheitert – wie glauben Sie, kann dieses Stück jetzt gesehen werden?
Guillermo Calderón: Das Theater ist vor allem aus politischer Sicht gescheitert. Ich habe viele Jahre politisches Theater gemacht, um auf all diese Themen aufmerksam zu machen, vielleicht auch, um die politische Situation zu verändern. Das ist natürlich ambitioniert. Was das anbelangt, sind wir gescheitert.
Aber dieses Stück wird etwas Schönes sein – mit toller Musik. Im besten Fall wird das ein schönes Zusammenspiel von aktueller politischer Situation und reiner Schönheit auf der Bühne.
Wir leben ja gerade in einem totalen Horror. Täglich erfahren wir aus den Sozialen Medien, wie brutal wieder gegen die Demonstranten auf der Straße vorgegangen wurde. Dieses Stück könnte etwas Heilendes haben mit all seiner Schönheit. Und ein Gefühl der Gemeinschaft gründen jenseits von all dem Horror.
Gemeinsam in der Ungewissheit
Susanne Burkhardt: Was hilft Ihnen derzeit, mit dem Theater weiterzumachen?
Guillermo Calderón: Dieser Gedanke an das Gemeinschaftliche, aber auch der Gedanke des Scheiterns und der Spaltung, und auch die Tatsache, wie entsetzt wir sind – das teilen wir Theatermacher. Die Unklarheit, wie es künstlerisch weitergehen kann, vereint uns. Also werde ich weiterschreiben über diese Situation, aber auch um meinen Leuten zu zeigen, was möglich ist. Die Krise hat uns vereint. Das ist unser Antrieb – das Gemeinschaftliche.
Susanne Burkhardt: Wenn Sie jetzt in die Zukunft schauen, welche Hoffnungen haben Sie? Wie könnte sich die Situation in Chile verändern: Durch die Proteste auf der Straße – im Parlament oder durch eine neue Verfassung?
Guillermo Calderón: Die Wahl im April ist das Ergebnis der Proteste: Im April entscheiden die Chilenen, ob ihr Land eine neue Verfassung bekommt. Das ist ein großer Erfolg. Aber es gibt auch viel Angst. Denn die politischen Rechten sagen, dass das Land in einer solchen Krise ist, dass es keine Wahl geben sollte. Sie versuchen, die Wahl zu verhindern.
Die große Veränderung in Chile aber wird von der Arbeiterklasse ausgehen. Denn der Protest richtet sich vor allem gegen die Armut und gegen eine fast schon kriminelle Ungleichheit in diesem Land. Die Arbeiterklasse hat genug davon, immer nur zu arbeiten, fürs Überleben zu sorgen und freundlich zu sein. Jetzt schließen sie sich in Gewerkschaften zusammen.
Es ging los mit dem Protest gegen die Preiserhöhungen für U-Bahn-Tickets. Und wenn diese Leute in der Lage sind zu kämpfen, dann können sie auch Einfluss nehmen auf die Verfassung und für ein gerechteres System sorgen. Das Theater muss Teil dieser sozialen Bewegung sein. Wir können als Künstler nicht isoliert in unseren Theatern bleiben. Wir waren zu lange getrennt. Es ist Zeit zusammenzukommen.
Zugang zu Theatern erleichtern
Susanne Burkhardt: Das heißt auch, das Theater sollte mehr auf die Straße gehen, zu den Demonstrierenden, als Leute in seine Häuser einzuladen?
Guillermo Calderón: Ja. Inzwischen gibt es verschiedene neue Produktionen, die auf der Straße aufgeführt werden. Natürlich haben nicht alle die gleiche Arbeitsweise – ich werde im Theaterraum bleiben, denn in meinen Arbeiten geht es um Gedanken und Worte – also brauche ich die vier Wände. Aber wir müssen den Zugang zum Theater erleichtern, Preise senken, auch wenn wir von dem Geld ja leben. Und es muss uns gelingen, die Bewegung ins Theater zu bekommen, statt nur rauszugehen.
Susanne Burkhardt: Es gibt natürlich Leute, die sagen: "Warum wird so viel zerstört, gibt es keinen anderen Weg, um die Ziele zu erreichen, als diese Gewalt auf der Straße?" Was antworten Sie denen?
Guillermo Calderón: Es gibt so viel Zerstörung, weil es so viel Wut gibt. Aber man darf auch nicht vergessen: Vieles in diesem Land wird alle zehn Jahre durch Erdbeben zerstört. Das gehört zur DNA des Landes: Alles wird zerstört und dann baust du es wieder auf. Die Mapuche zum Beispiel haben sich gegen die spanischen Soldaten, die ihr Land kolonialisiert haben, damit zur Wehr gesetzt, dass sie deren Städte anzündeten. Das gehört zur Geschichte dieses Landes: Alles zerstört und verbrannt zu sehen und dann von vorn anzufangen, ist kein schreckliches Trauma.
Ein Ergebnis ist auch, dass an den Orten, wo die Demonstrationen stattfanden, zum Beispiel am Plaza de la Dignidad - da wo es vorher schön und grün war, mit vielen Blumen, dass es dort jetzt trocken ist und dürr. Dieser trockene Platz steht ein bisschen dafür, was wirklich los ist. Er erinnert an die schreckliche Dürre, die gerade herrscht und an den Klimawandel. Dazu kommt, dass die Stadt so geteilt ist, dass nur in den reicheren Gegenden die Gärten gegossen werden – für die Armen gibt es keine Gärten. Wenn die Demonstranten also das Gras zerstören, ist das für mich ein Weg zu sagen: Lasst uns die "wahre Stadt" zurückbringen ins Zentrum.