Es wird "an der Wurzel der Kunstfreiheit rumgesägt"
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In der Freiheit eingeschränkt sein: Die Erfahrung machte Dramaturg Christian Tschirner in seiner DDR-Kindheit. Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier erlebte dies, als er wegen einer Inszenierung Drohungen erhielt. Er sieht die Kunstfreiheit in Gefahr.
Dieter Kassel: Thomas Ostermeier wurde 1968 in Soltau in Niedersachsen geboren, hat aber dann direkt nach dem Mauerfall an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Ostberlin studiert und dann auch lange im Ostteil der Stadt gearbeitet, bis er 1999 die künstlerische Leitung der im Westteil gelegenen Schaubühne übernahm.
Christian Tschirner wurde 1969 in Wittenberg geboren, wuchs dort und in Chemnitz auf und studierte dann aber nach dem Mauerfall auch an der Ernst-Busch-Schauspielschule, hat dann aber doch als Schauspieler fast nur in Westdeutschland gearbeitet, und vor ein paar Wochen hat Ostermeier ihn, Christian Tschirner, an eben die Schaubühne in Berlin geholt, als leitenden Dramaturg.
Sie waren beide bei mir im Studio, und ich habe sie beide gefragt, wann es das erste Mal in ihrem Leben einen Moment gegeben hätte, an dem sie gemerkt haben, dass ihre persönliche Freiheit eingeschränkt ist. Fast ein bisschen erwartungsgemäß hat Christian Tschirner als erster geantwortet.
Frühe Erfahrungen in der DDR
Christian Tschirner: Das war bei mir schon dann relativ früh der Fall, also weil ich ja in der DDR großgeworden bin, und da ist man mit dieser Frage natürlich sehr schnell konfrontiert worden, zumindest wenn man, wie ich, aus einem Elternhaus kam, was jetzt nicht so unmittelbar konform mit dem System war. Da ist dann die Frage, was sagt man in der Schule, was darf man sagen von den Gesprächen zu Hause, die ist dann sehr schnell relevant.
Kassel: Und wenn man 1968 in Soltau in Niedersachsen geboren ist, Herr Ostermeier, dann war die Freiheit grenzenlos?
Thomas Ostermeier: Nein, die Freiheit war nicht grenzenlos. Also wenn man jetzt über meine Kindheit reden möchte, dann…
Mordrohungen nach Aufführung von "Fear"
Kassel: Nein, wann auch immer, der erste Moment der Unfreiheit.
Ostermeier: Der erste Moment der Unfreiheit war bei mir wirklich vor wenigen Jahren, als wir mit der Aufführung von Falk Richter, "Fear" damit konfrontiert waren, dass die Kollegen von der AfD das nicht gut fanden und die Aufführung von dem Pressesprecher mitgeschnitten wurde, wir dann vor Gericht gezogen wurden, wir viele Hassmails bekommen haben, Morddrohungen bekommen haben. Das war ganz klar so ein Moment.
Der zweite Moment war letzten Sommer in Peking, wo unsere Aufführung "Der Volksfeind" dazu geführt hat, dass die erst uns gebeten haben, das Werk zu zensieren und dann auf einmal uns gesagt wurde, das Theater, wo wir weiterspielen sollten, steht jetzt nicht mehr zur Verfügung wegen technischer Gründe und so, aber es war das Ende der Kunstfreiheit für diese Aufführung, für uns in China.
Kassel: Ist denn die Bedrohung von rechts, das Gerede, das wir in Deutschland in Bundesländern haben, von "mehr deutsche Theaterstücke an deutschen Theatern" und die Kritik am angeblich immer linken Theater, ist das eine latente Bedrohung, die Sie grundsätzlich inzwischen spüren, Sie beide?
Ostermeier: Das ist eine Bedrohung, das ist absolut eine Bedrohung, klar, weil es eben jetzt Vorstellungen gibt, Kunstfreiheit einzuschränken. Es gibt ja verschiedene sozusagen Zumutungen an die Kunst, eine Kunst soll politisch sein, soll pädagogisch sein und so weiter, das ist ja auch schon so der Versuch, die Kunst in bestimmte Richtungen zu drängen.
Wenn man sagt, ich mache aber Kunst für Kunst, interessiert mich alles nicht, dann kann es schon schwierig werden, aber das bewegt sich ja alles noch nicht in einem Raum, der rechtlich relevant ist. Das sind Diskussionen, die innerhalb der Kunst oder innerhalb einer kunstaffinen Gemeinde geführt werden, und jetzt kommt plötzlich etwas auf den Plan, wo tatsächlich an der Wurzel der Kunstfreiheit rumgesägt werden soll, das soll eingeschränkt werden.
Kassel: Und hilft einem eigentlich dabei Erfolg und Prominenz, oder eher anders, weil man ja auch viel mehr in der öffentlichen Wahrnehmung steht, vielleicht an einem kleinen Stadttheater merkt es vielleicht auch keiner, wenn man was tut, was an Grenzen geht?
Ostermeier: Die Wahrnehmung habe ich nicht, weil wir hatten da wirklich massive Probleme mit dieser Aufführung, sodass ich auch für eine Zeit lang, und Falk Richter bestimmt noch viel mehr, Angst ums eigene Leben hatten, und das, glaube ich, auch das, wie ich das beschreiben würde, dass es gar nicht mehr darum geht, bringt doch mehr deutsche Klassiker auf die Bühne, und die deutsche Sprache muss gepflegt werden, sondern dass man wirklich sehr schnell in einen Bereich kommt, auch mit dem, was jetzt passiert ist, mit dem Mord an dem CDU-Politiker oder den Morddrohungen Richtung Claudia Roth oder Cem Özdemir, wo man von den Listen hört, die kursieren.
Dann fragt man sich natürlich sehr schnell, ist man auf diesen Listen auch drauf. Dann gibt es auch diesen Fall, dass die Polizei die Listen nicht rausgeben will. Dann fragt man sich auch, warum eigentlich. Also das sind ganz massive, persönliche Bedrohungen, und das sehe ich als die größte Bedrohung und die größte Unfreiheit an.
Tschirner: Es wird so ein Szenario aufgebaut, wo sich Leute… und das kann schon natürlich in kleineren Theatern, in Provinzen noch härter sein, weil man da noch mehr auf sich alleine gestellt ist und möglicherweise auch solchen Druckszenarien noch mehr unterliegen kann. Also wir in Berlin sind noch getragen von Solidarität, von anderen Menschen, die das unterstützen oder sagen, so, da dürft ihr nicht einknicken oder so, aber das kann natürlich in anderen Gegenden ganz anders aussehen.
Erfahrungen in den USA
Kassel: Kommen wir mal zurück auf die allerersten Momente nach der Freiheit, die Ostdeutsche dann bekommen haben am 9. November 1989. Wenige Jahre danach haben Sie beide – da kommen wir dann auch noch – an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch studiert, aber Sie, Christian Tschirner, haben vorher ja noch was anderes gemacht. Sie sind nämlich in die USA gegangen für, ich glaube, ein ganzes Jahr. Weil es das Land of the Free ist? Also haben Sie gesagt, ich darf zwar nach Westdeutschland, aber jetzt will ich richtig weit in den Westen?
Tschirner: Nein, das war einfach zufällig. Ich hatte ein Angebot, da für ein Jahr nach Amerika zu gehen, und das war gerade dieser Irrsinn, dass die Mauer auf ist, konnte man gar nicht fassen, und jetzt gab es diese Möglichkeit, und da habe ich gesagt, ja, das muss ich machen, sofort.
Kassel: Aber war es wirklich ein Traumland? Ich will hier nicht stochern, bis ich das höre, was ich hören will.
Tschirner: Ob es ein Traumland ist, ist eine andere Frage. Nein, also da waren ganz viele Sachen, die mich verstört haben und die ich gar nicht einordnen konnte. Ich kannte ja bis dahin …, muss man sich vorstellen, für mich, ich kam dahin und dachte, aha, so ist der Westen, aber ich habe dann erst später gemerkt, das ist ja nur Amerika. Ich war im mittleren Westen, also in dem redneck country da, das war ziemlich krass so erst mal als Erfahrung.
Andererseits, ich hatte sehr schnell Kontakt zu so einem College in Yellow Springs, Antioch College, so ein Offspring College nennt man das, also von Ostküsten-College, diese berühmten, die haben eine Zeit lang so versucht, das Zentralland Amerikas etwas mit Bildung zu durchtränken und haben da so kleine Colleges gegründet, und das war ein Ort, der überhaupt nicht in diese ganze Landschaft passte. Das war vollkommen europäisch. Da gab es Cafés, da wurde Gras geraucht auf der Straße. Das war eine andere Welt, aber mitten im mittleren Westen von Amerika. Diese beiden Seiten habe ich da kennengelernt.
Kassel: Thomas Ostermeier, wenn man so wie Sie prinzipiell, also es ist immer auch eine Geldfrage, aber prinzipiell ja ständig hätte nach Amerika fahren können, hat das Land für Sie je eine Faszination ausgeübt in irgendeiner Form?
Ostermeier: Ja, ich bin Ende der 90er zum ersten Mal nach Amerika.
Kassel: So spät?
Ostermeier: Ja, weil es mir einfach finanziell nicht möglich war, und auch meine erste Amerikareise wurde gesponsort. Das war damals, ich weiß nicht, 20 Jahre Luftbrücke, 30 Jahre Luftbrücke, war so ein Festival, und da hatten die mich nach Amerika geschickt, weil ich in einer Baracke war und zeitgenössische Dramatik gemacht habe. Die haben gesagt, Mensch, geh doch da mal scouten, ob es einen amerikanischen Autoren gibt, der was zur Luftbrücke schreiben kann. Da bin ich dann dadurch gesponsort nach Amerika gekommen.
Was mir am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben ist, ist, dass meine von mir so bewunderte Wooster Group zu der Zeit in New York spielte und ich unbedingt irgendwie mit denen in Kontakt kommen wollte und es mir nicht gelungen ist. Mittlerweile arbeiten wir mit denen zusammen, und jetzt rufen sie bei mir immer an und sagen, wann kommt denn das nächste Projekt. Also so hat sich das verändert. Es ist schon ein ziemlicher closed shop, New York mit seiner Theaterstruktur.
Die Wahl der Hochschule
Kassel: Wir haben es andeutungsweise schon im ersten Teil des Gesprächs mit Thomas Ostermeier, dem Theatermacher aus dem Westen, und Christian Tschirner, dem Theatermacher aus dem Osten, gehört, Sie haben beide kurz nach dem Mauerfall in Ostberlin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch studiert. Aus jeweiliger Sicht, eigentlich bei beiden erstaunlich, besonders aber beim Niedersachsen Thomas Ostermeier, und ich habe ihn deshalb gefragt, ob das von ihm wirklich ein großer Wunsch war, unbedingt dort zu studieren.
Ostermeier: Ja, total. Also ich hatte sogar mich informiert, bevor die Mauer gefallen ist, wie es geht, an der Ernst Busch zu studieren, weil es mein Traum war.
Kassel: Das heißt, Sie wären in die DDR gegangen eventuell dafür.
Ostermeier: Ja, wenn ich das wieder nötige Kleingeld gehabt hätte, weil damals musste man als Weststudent, wenn man in Ostberlin studieren wollte, ich glaube, pro Semester 900 Schweizer Franken bezahlen. Das war ein Devisenbeschaffungsmittel. Es gab übrigens auch ein paar bei dir in der Klasse sogar, –
Tschirner: Ja, genau.
Ostermeier: – die vor Mauerfall schon rüber sind und dort studiert haben. Das ging bei mir nicht wegen Geld. Dann hatte ich meine Erfahrungen an den westdeutschen Schauspielschulen und hatte ein ganz anderes Bild von ostdeutschem Theater. Die Brecht-Tradition, sich gesellschaftlich zu verorten, sozialeren Blick auf Theater und auch auf Figuren zu haben, und ich hatte das Gefühl, dass ich das dort lernen kann, und würde auch heute noch sagen, das war die richtige Entscheidung.
Kassel: Herr Tschirner, die Mauer war gefallen, Sie waren ein Jahr in den USA, kamen zurück und hätten natürlich, wenn ich mal davon ausgehe, in einer Fremdsprache Schauspiel zu studieren ist ja schwierig, aber an jeder Schauspielschule in Gesamtdeutschland, Österreich, der Schweiz, da hätten Sie studieren können und sind auch an die Ernst Busch gegangen. Warum?
Tschirner: Echt? Ich habe da gar nicht drüber nachgedacht. Also ich komme nicht aus einer Familie, die was mit Kunst oder Theater zu tun hat. Meine ganze Familie ist eher so naturwissenschaftlich drauf. Ich habe aber durch Theateraufführungen in Karl-Marx-Stadt damals, das war so ein sehr avanciertes Provinztheater, wo viele tolle Theaterleute gearbeitet haben, bin ich zum Theater gekommen, war begeistert und habe das dann für mich ins Auge gefasst.
Für mich gab es überhaupt nur die zwei Möglichkeiten, entweder auch Naturwissenschaft zu studieren oder in die Kunst zu gehen, weil das andere schien mir dann doch damals als zu ideologisch verseucht so. Das waren also die zwei Optionen, und dann habe ich mir das erst gar nicht zugetraut. Ich habe aber dann eine Sprecherzieherin kenngelernt, weil ich im Theater dann auch so gejobbt habe, da habe ich die kennengelernt, und dann hat die gesagt, bewirb dich doch, und dann bin ich an der Busch genommen worden. Ich habe nie über eine andere … Das wusste ich gar nicht, dass es noch mehr gab. Dann hatte ich ein halbes Jahr lang große Probleme, weil ich das überhaupt nicht kapiert habe alles. Dann habe ich irgendwie Spaß dran gehabt.
Ostermeier: Und dann ist er ein ganz toller Schauspieler geworden. Es ist ziemlich bedauerlich, dass der Tschirner nicht mehr spielt.
Tschirner: Kommt noch.
Gruppe von Verschwörern
Kassel: Sie haben sich damals kennengelernt, dann, glaube ich, ziemlich lange gar nicht mehr gesehen, und dann haben Sie – das ist erst ein paar Wochen her –, Herr Ostermeier, ihn quasi, Herrn Tschirner, an die Schaubühne ja jetzt geholt. Aber damals, als Sie sich begegnet sind, der Westler, der, zumindest, was die Schauspielerei anging, den Osten ganz toll fand, gab es zwischen Ihnen beiden da eigentlich damals so ein bisschen Debatten, was so den Blick auf den Osten angeht?
Tschirner: Ganz bestimmt. Also wir haben sehr viel debattiert. Also wir waren ja eine Gruppe von Verschwörern in der Schauspielschule, also Schauspieler und Regisseure und Puppenspieler, das war so eine Verschwörung, und wir wussten natürlich, wie das richtige Theater geht, und das war alles so ziemlich doof, was so stattfand, und wir haben uns da zusammengefunden. Wir haben über alles diskutiert, also über alles.
Ostermeier: Vor allem darüber, wie man arbeiten will.
Tschirner: Wie man arbeiten will, was man machen will. An der Busch, das war, erinnere ich auch noch, sehr gut, das war ein Clash, weil mein Jahrgang war der erste Jahrgang, dass mehrheitlich Studenten aus Westdeutschland an der Busch studierten, und die Dozentinnen, die waren da gar nicht drauf vorbereitet. Da gab es ständig irgendwelche Reibereien, die westdeutschen Schauspielstudentinnen, die hatten gar nicht so eine Vorstellung von so einem verschulten Betrieb, wie das ja noch war. Also das war sehr straff durchgetaktet und so weiter. Da gab es ständig Diskussionen über was ist Ost und was ist West, was ist Osttheater, was ist Westtheater. Also das war dauernd Thema.
Kassel: Das greife ich doch jetzt mal auf. Ich wollte die Frage ernsthaft sowieso stellen, und wir trennen sie auf damals und heute: Was ist denn Osttheater, und was ist Westtheater?
Ostermeier: Ich habe das ja gerade eben schon versucht zu sagen. Ich glaube, vereinfacht gesprochen, versucht das Osttheater den Mensch und seine Verhaltensweisen dahingehend zu analysieren, dass er auch oder vor allen Dingen Produkt gesellschaftlicher Umstände ist und nicht so sehr Produkt seiner eigenen individuellen Psychologie. Ganz einfach.
Kassel: Ist das so einfach, Herr Tschirner?
Tschirner: Zumindest ist das das Prinzip. Ich würde sagen, heute ist das nicht mehr so ganz klar. Also heute gibt es westdeutsche Theaterkünstlerinnen, die ostdeutsches Theater machen. Also das kann man nicht mehr so zuordnen geografisch, aber im Prinzip ist das schon die große Unterscheidung, dass man im Westen großes Augenmerk auf die Persönlichkeit gelegt hat –
Ostermeier: Oder die persönliche Befindlichkeit.
Tschirner: – oder die persönliche Befindlichkeit – das kann man jetzt auch wieder …
Ostermeier: Weil Persönlichkeiten gab es ja wahnsinnig viele im ostdeutschen Theater.
Tschirner: Nein, aber man hat eher das Gesellschaftliche in den Vordergrund gerückt. Also zum Beispiel ein großes Thema war immer der gelernte Text. Damals die Ostschauspielerinnen weigerten sich, vor Probenbeginn den Text zu lernen, weil sie gesagt haben, wir müssen erst ausdiskutieren, worum es geht, dann lernen wir den Text. Die Westschauspielerinnen, die kamen meist mit gelerntem Text und waren dann schwer davon zu bewegen, den Text anders zu sagen als sie ihn gelernt hatten. Also das waren so Unterschiede.
Ostermeier: Ich zum Beispiel wüsste jetzt gar nicht für mich, bin ich ein eher ostdeutscher oder eher ein westdeutscher Theatermacher. Ich glaube, viele, die meine Arbeit als eine an Realismus und psychologischen Realismus geschultes Theater wahrnehmen, würden sagen, na ja, das ist eher ein westdeutscher Theatermacher, aber von meinem Selbstverständnis bin ich eher in der Ausbildung ostdeutsch.
Frankfurt wirkte wie eine Fotomontage
Kassel: Herr Tschirner, welche Erfahrung haben Sie denn dann gemacht? Sie sind nach der Ernst Busch lange Zeit fast ausschließlich im Westen aufgetreten, haben da gearbeitet.
Tschirner: Genau.
Kassel: Frankfurt am Main war eine Weile quasi Ihr Lebensmittelpunkt, Braunschweig, Stuttgart, diverse Stationen im Westen. Sind Sie da als Ostschauspieler wahrgenommen worden?
Ostermeier: Das habe ich eigentlich nie gefragt, keine Ahnung, das weiß ich nicht. Ich habe da so viele verschiedene Sachen gemacht. Ich weiß nicht, ob ich da als Ostschauspieler, auf jeden Fall bin ich als Ostler wahrgenommen worden, weil man schon manche Dinge anders sieht. Als ich mein Engagement begonnen habe in Frankfurt, da habe ich ein Bild von Frankfurt … Ich war noch nie in Frankfurt gewesen. Da dachte ich, das ist eine Fotomontage, man hätte diese Hochhäuser da hinter diese Fachwerkhäuser einfach reinmontiert. Ich dachte, das ist doch nicht echt. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen. Das sah so amerikanisch aus für mich.
Kassel: Ein Stichwort, das ich nicht auf dem Zettel hatte, ist relativ oft gefallen in unserem Gespräch jetzt die ganze Zeit, nämlich das Stichwort Geld, und zwar auch, fand ich, im Zusammenhang mit Freiheit. Was hat das eine mit dem anderen zu tun, auch gerade in der Kunst, in der Kultur, Geld und Freiheit?
Ostermeier: Oh, das ist ein riesiges Thema. Einfach gesagt, je mehr Geld desto mehr Freiheit im Kapitalismus. Das ist so die Zauberformel, der wir uns unterwerfen und an die wir in unserem privaten Leben, glaube ich, dran glauben oder viele dran glauben, aber auch in der Arbeit dran glauben. Das heißt, wenn wir möglichst gute Produktionsmittel und Möglichkeiten haben, dann können wir auch die Freiheit der Kunst feiern, weil sie unbeschränkt ist und weil wir uns nicht einschränken müssen.
Andererseits, mein wichtigster Theaterlehrer oder Vorbild, Meyerhold, hat den schönen Satz gesagt: Die größte Freiheit ist in der größten Beschränkung und meinte das im Hinblick darauf, wie man theatrale Abläufe konstruiert, damit der Schauspieler dann auf dieser Plattform der Verabredungen frei werden kann, weil er die Sicherheit des Gerüstes hat. Also Geld, man könnte so viel drüber sagen, auch meine ganzen Ibsen-Aufführungen, glaube ich, sind deswegen speziell, weil ich einen Punkt in den Vordergrund gestellt habe, dass ich immer gesagt habe, ist euch schon mal aufgefallen, wie viel in den Ibsen-Stücken über Geld geredet wird, dass das eigentlich Figuren sind, die davon getrieben sind, Angst zu haben, aus diesem kapitalistischen Verwertungssystem rauszufallen, und deswegen verhalten die sich so wie die sich verhalten. Also dieser marxistische Blick auf Literatur ist vielleicht etwas, was ich schon vor der Busch hatte, aber was durch die Busch noch mal verschärft wurde als Analyse für dramatische Texte.
Tschirner: Die Kunstfreiheit ist ja erst mal ein rechtlicher Begriff. Also man sagt, die Kunst ist frei, man hat sozusagen einen rechtlich geschützten Freiraum. Der nützt natürlich nur, wenn ich auch Produktionsmittel habe, um den zu nutzen. Ansonsten ist es natürlich auch praktisch dann nicht möglich, von der Freiheit zu sprechen. Ich habe zwar die rechtliche Möglichkeit, freie Kunst zu machen, habe aber keine Produktionsmittel. Also insofern gibt es da schon einen Zusammenhang.
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