Dem Theater aufs Dach steigen
Neue Attraktion in Freiburg ist ein Glaskasten in luftiger Höhe auf dem Dach des Theaters. Wer möchte, kann darin eine einsame Stunde bei Sonnenauf- oder untergang verbringen. Das Projekt der Choreographin Joanne Leighton hat bereits in französischen Städten erfolgreich stattgefunden.
"Wir können jetzt hier mal einen kleinen Blick reinwerfen. Viel sieht man nicht.“
Man spürt eher etwas: Es regnet in Freiburg, und kaum bin ich in den länglichen Holzkasten eingetreten, bin ich geschützt. Die Kieferholzplatten der dünnen Wände duften aufdringlich. Dort, wo in drei Tagen Sicherheitsglas die Sicht auf die Stadt zu meinen Füßen ermöglichen wird, hängt jetzt noch eine Plastikplane und hindert den Blick nach unten. Die Türmer-Erfahrung – nichts für Leute mit Höhenangst. Projektleiter Lukas Flückiger beruhigt:
"Die dürfen sich wirklich auch frei bewegen darin, die müssen nicht genau am Rand stehen. Ich denke, es ist aber schon das Spannendste, so weit wie möglich nach vorne zu gehen, man hat auch die Möglichkeit, vorne ein bisschen nach unten zu gucken, es wird ringsrum verglast sein. Auch unten. Also man sieht dann auch wirklich den Platz vor dem Theater. Man sieht, wie die Stadt aufwacht. Die Leute so langsam daherkommen, vielleicht das erste Auto mal kommt. Die Baustelle nebenan anfängt. Und ich glaube, das ist schon so spannend, dass man dann eher mal nach vorne geht und nicht nur im Raum drinsteht.“
"Es ist kein Gefühl von Größe, sondern von Fülle, ein Augenblick, der ganz einem selbst gehört und in dem alles und nichts einem durch den Kopf geht. Ich hatte wirklich den Eindruck, in meiner Blase zu sein, wo nichts mich erreichen kann."
Erfahrungen wie diese haben Türmer ins Gästebuch geschrieben. Dort, wo das Projekt bereits stattgefunden hat, in Belfort, Naval und Rennes. Ein Begleiter führt den Kandidaten auf den Turm und nimmt ihm alles Störende ab: Handy, Kamera, Armbanduhr. Der Begleiter sorgt dafür, dass der Türmer exakt eine Stunde in seinem Guckkasten bleibt. Keine Minute mehr oder weniger. Die Anfangszeit stets abgestimmt auf den Beginn des Sonnenauf- oder untergangs.
Eine Stunde herausgeschnitten aus dem Alltag. Zuschauer oder Darsteller? Wie viele Augenpaare schauen kurz zu mir nach oben während ich sie mustere? Seltsamer Blickwechsel.
Die gläserne Wand bietet mir die Stadt an als Beobachtungsobjekt, nicht zur Benutzung. Die Stadt als Kunstwerk.
Jemand will an die Tür klopfen, es ist die Begleiterin. Eine Stunde ist so schnell vorbeigegangen.
Etwas Besonderes: morgens um 5 Uhr auf einen Turm steigen
In Freiburg regnet es immer noch. Es regnet auf mein Mikrophon, als ich vor dem Portal des Theaters drei zukünftige Türmer treffe: Birgit, eine lebenslustige, rotwangige Frau Anfang 50, Gernot, einen grau melierten Brillenträger im gleichen Alter und den 23-jährigen Computer-Nerd Christoph. Alle drei haben sich die Wacht bei Sonnenaufgang ausgesucht, obwohl sie dafür um fünf Uhr früh auf den Turm steigen müssen, zu dem wir jetzt gemeinsam hochblicken. Für Gernot ist bereits das Warten auf seinen Termin am 5. Juli etwas Besonderes, die Vorfreude.
"Ich bin Fan von Sonnenauf- und untergängen. Und Sonnenuntergänge kenn' ich zur Genüge, vom Atlantik, von Sylt. Und Sonnenaufgänge sind selten. Vielleicht hat man wirklich so das Gefühl, man ist Wächter oder Türmer von der Stadt. Um die Uhrzeit.“
Freilich, ein einsamer Wächter, der nicht einmal mitteilen könnte, wenn es irgendwo brennt. Der 23-jährige Christoph bekennt: Normalerweise schaltet er, sobald er wach wird, als erstes sein Handy an.
Christoph: "'ne ganze Stunde allein und wach und ohne Kommunikationsmittel bin ich eigentlich nie.“
Gernot:"Also wenn ich’s Handy mitnehmen dürfte, würde ich’s natürlich machen und Fotos machen und gleich schreiben: Hey, es ist geil hier oben und so. Aber ohne Handy geht’s natürlich auch. Werde ich mir das alles merken müssen.
Birgit: "Eine Stunde nichts zu tun. Die wird wahrscheinlich lang!“
Allein das ist es eben! - würde der Dichter Christian Morgenstern wohl an dieser Stelle einwerfen. Das Gästebuch der Türmer von Belfort jedenfalls berichtet von berührenden Erkenntnissen angesichts der Vogelperspektive.
"Ich habe auch an die Männer und Frauen hinter jeder Häuserwand gedacht, manche glücklich, manche in Trauer und Leid. Allein in dieser gefensterten Zelle, habe ich auch an mein Leben denken können. Ich bin gerade fünfzig geworden. Ich habe vielleicht keinen Erfolg gehabt im Leben, aber ich kann bescheiden sagen, dass ich glaube, mein Leben gemeistert zu haben."