"Nur die Spitze eines Eisbergs"
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Ein für den Herbst geplantes Theaterprojekt soll an den NSU-Terror erinnern. Kurator Tunçay Kulaoğlu will darin die Opfer ins Zentrum stellen – und der These entgegenwirken, rassistische Verbrechen in Deutschland seien das Werk von Einzeltätern.
Zum zehnten Jahrestag der sogenannten Selbstenttarnung der NSU-Terrorgruppe soll im kommenden Herbst ein deutschlandweites Theater-Großprojekt an die Verbrechen erinnern. Im Zentrum der künstlerischen Neuverhandlung sollen die Opfer und die bis heute andauernden Nachwirkungen stehen. Unter dem Titel "Kein Schlussstrich" sind vom 21. Oktober bis zum 7. November 2021 in 13 deutschen Städten Aufführungen, Lesungen, Diskussionen und andere Veranstaltungen geplant.
Beteiligt sind Theaterhäuser in Städten, in denen die Mörder des NSU aufwuchsen, Aufenthalt oder Unterstützung fanden, und Theater in Städten, in denen die Opfer lebten. Man wolle sowohl das Gerede über Einzeltäter ein für allemal entkräften, als auch der Ziehung eines Schlussstrichs unter die Aufarbeitung entgegentreten, sagt Kurator Tunçay Kulaoğlu.
Einbindung der Bevölkerung in das Programm
Im Projekt gebe es drei Klammern. Das seien einerseits die Eigenproduktionen der beteiligten Theater und Institutionen – darunter sowohl Uraufführungen als auch Wiederaufnahmen – und andererseits begleitende Veranstaltungen unterschiedlicher Art. Als zweite Klammer diene eine Wanderausstellung mit dem Titel "Offener Prozess" und als dritte ein transmediales und partizipatives Oratorium des Komponisten Marc Sinan, bei dem in den einzelnen Städten nicht nur die Theaterhäuser oder Orchester beteiligt werden sollen, sondern Stadtgesellschaften und zivilgesellschaftliche Initiativen.
Mit dem programmatischen Titel "Kein Schlussstrich!" soll einer Mentalität in Deutschland entgegenwirkt werden, sagt Kulaoğlu. "Der NSU-Komplex ist ja nur die Spitze eines Eisbergs in diesem Land. Deswegen möchten wir ihn in diesem Projekt als Folie nehmen, um uns sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart in Westdeutschland und in Ostdeutschland genau anzugucken."
Die wiederkehrende Einzeltäter-These bekämpfen
Es werde immer von einer Vergangenheitsbewältigung gesprochen, die abgeschlossen sei, sagt Kulaoğlu. "Wenn dem so wäre, hätten wir aber die Anschläge in Hanau und Halle nicht gehabt." Deswegen müsse man sich mit Rassismen beschäftigen, die sich durch die Gesellschaft zögen:
"Darauf kommt es an. Ob das jetzt rassistische Ermittlungen der Polizei, des Bundeskriminalamts oder der Landeskriminalämter sind oder wie der Verfassungsschutz damit umgeht. Beim Lübcke-Prozess haben wir wieder diese Einzeltäter-These gesehen. Die wird immer wieder durchgekaut, und man schaut nicht in die Grundverfasstheit dieser Republik, was dieser Rassismus eigentlich bedeutet."
Um die vielen Facetten des Rassismus aufzuzeigen, habe man beschlossen, bei der künstlerischen Aufarbeitung stadtgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure einzubinden, um eine Multiperspektive einnehmen zu können, "weil wir sonst keine Chance haben, dann werden wir von Einzeltätern reden, dann werden wir von Ausnahmen reden. Was ja leider Gottes in der Mehrheitsgesellschaft passiert."
(rja)