Chris Dercon baute Luftschlösser ohne Finanzierung
Nur sieben Monate nach dem Start an der Volksbühne gibt Intendant Chris Dercon auf. Dercon verlasse ein Haus, das zu groß für ihn gewesen sei, kommentiert Susanne Burkhardt. Ein Haus, dessen Bedeutung für die Stadt er falsch eingeschätzt habe.
Es ist ein Ende mit großem Schrecken. Das Aus für die kurze, erfolglose Volksbühnen-Intendanz des belgischen Museumskurators Chris Dercon, der immer betont hatte, seinen Fünf-Jahres-Vertrag erfüllen zu wollen - dieses Aus kam am Ende schneller, als von manchen ohnehin erhofft.
Aber die Erleichterung, die viele Castorf-Fans und Dercon-Kritiker gestern kurz verspürt haben mögen, blieb nicht ungetrübt – folgten doch sogleich die Neuigkeiten eines Rechercheteams von NDR, RBB und "Süddeutsche Zeitung": Demnach erfolgte Dercons Rücktritt aufgrund eines drohenden finanziellen Kollapses des Theaters, verbunden mit der Erkenntnis, dass der Spielbetrieb unter den aktuellen Umständen nicht mehr lange aufrecht erhalten werden könne.*
Es fehlten erwartete Sponsorengelder in sechsstelliger Höhe. Stattdessen: teure Gastspiele, große Namen, Zusatzkosten für ein Stadttheater, das für Eigenproduktionen ausgelegt ist. Allein für das Eröffnungsspektakel auf dem Tempelhofer Feld waren knapp einen halbe Million-Euro draufgegangen. Für nur einen Tag.
Ein geisterartiges Haus
Dass das nicht lange gut gehen kann, war abzusehen und wurde längst diskutiert. Besonders seit der Programmvorstellung vor einem Jahr. Dazu die späte Spielzeiteröffnung im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz, die wenigen ernstzunehmenden Premieren, der löchrige Spielplan, eine Auslastung von unter 50 Prozent, ein kaum vorhandenes Ensemble und frustrierte Mitarbeiter in einem geisterartigen Haus, das auch der Besetzung durch junge Aktivisten nichts entgegen zu bringen hatte.
Jetzt also geht Chris Dercon, der seit seiner Berufung 2015 mit Anfeindungen zu kämpfen hat, die zu oft unter der Gürtellinie verliefen und einen Neuanfang natürlich erschwerten.
Ein verdeckter Systemwechsel?
Dercon verlässt ein Haus, das zu groß für ihn und seine Programmdirektorin Marietta Piekenbrock war. Ein Haus, dessen Geschichte und Bedeutung für die Stadt er falsch eingeschätzt hat – und damit auch den Widerstand gegen seine Pläne, es in ein grenzüberschreitendes, laborartiges Produktionshaus zu verwandeln, ohne eigenes Ensemble – stattdessen Ensuite-Betrieb. Grund für die Ablehnung seines Kurses war nicht – wie gern von Dercon-Fans behauptet – ein provinzielles, borniertes Denken der Berliner, sondern die berichtigte Sorge, hier werde ein verdeckter Systemwechsel vollzogen: die Abschaffung eines Ensemble- und Repertoire-Stadttheaters in dessen Tradition die Volksbühne nun einmal steht.
Den entscheidenden Teil des aktuellen Desasters haben allerdings Berlins Kulturpolitiker zu verantworten: der regierende Bürgermeister von Berlin Michael Müller und sein damaliger Kulturstaatssekretär Tim Renner. Sie beendeten die Ära Castorf nach 25 Jahren und holten handstreichartig einen theaterfernen Kurator an ein Haus, das bekannt war für seine theaterästhetische Erneuerung.
Luftschlösser ohne tragfähige Finanzierung
Es hätte gut gehen können – nur: es kam leider Nichts. Dazu ließen es die Politiker beim Bauen all der schönen Luftschlösser an einer tragfähigen Finanzierung mangeln und vertrauten darauf, Dercon werde schon genügend finanzstarke Sponsoren auftreiben. In den vier Jahren, in denen bundesweit über die Berufung Dercons debattiert wurde: kein Wort Müllers. Keine Verteidigung der Personalentscheidung, kein Kommentar zur Online-Petition mit inzwischen 40.000 Unterschriften, die den Top-Down-Beschluss kritisierten und eine neue Diskussion zur Zukunft der Volksbühne forderten. Stattdessen: Ein gnadenloses Schweigen, das Dercon schon früher Anlass hätte sein können, hinzuwerfen.
Jetzt muss Klaus Dörr, Stellvertreter von Armin Petras in Stuttgart und ohnehin ab Sommer der neue Geschäftsführer der Volksbühne, auch die Interimsleitung übernehmen und sehen, wie er die Spielzeit zu Ende kriegt. In der Zwischenzeit gilt es gründlich zu überlegen, wer das angeschlagene Haus in eine neue Zukunft führen kann. Jetzt wo der Schatten Castorfs nicht mehr unmittelbar über dem Nachfolger liegt, könnte das leichter werden.
Von Chris Dercon bleibt ein einziges Volksbühnen-Spielzeitheft. Wir erinnern uns: Es trug den Titel "I want to be free". Das war sicher anders gemeint.
*) Hier nachgereicht der detaillierte Bericht des Recherche-Teams, der am 20.4.2018 in der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlicht wurde.