Theaterreise ins Hirn

Von Stefan Keim |
Hat der Mensch einen freien Willen? Oder ist das bloß eine Illusion, weil alle Handlungen bereits im Hirn vorprogrammiert sind? Über diese Frage streiten sich Philosophen und Neurowissenschaftler. Nun beteiligen sich auch Theatermacher an dieser Debatte.
Das Düsseldorfer Ensemble "tatraum projekte" um den Regisseur Michael Schmidt zeigen eine "performative Versuchsanordnung im Spannungsfeld von Science und Fiktion". Klingt komplex, schließlich geht es ja auch ums Hirn und ums Bewusstsein. Der Titel der Aufführung: "Zentral: Organ". Auch der Spielort ist ungewöhnlich, eine ehemalige Backstube in Düsseldorf. Sie liegt auf dem Areal der ehemaligen Con-Sum-Fabrik, die gerade zu einer Stätte für Kunst mit Ateliers und Ausstellungsräumen umgebaut wird.

Seltsame Gebilde aus hellem Gaffertape kleben an den Wänden. Videoprojektionen zeigen einen Schwarm kleiner Objekte, die durcheinander trudeln. Der Raum ist angefüllt mit Geräuschen. Manche klingen verzerrt, als sei ein Kurzwellenempfänger schlecht eingestellt. Dann scheint es, als habe jemand ein Klavier geöffnet und schlüge die Saiten direkt an. Der Komponist Ansgar Tappert sitzt an einem Mischpult, lässt die Töne aus verschiedenen Ecken kommen und pulsieren.

Die Zuschauer stehen im Raum, bewegen sich, wechseln ständig die Perspektive. Am Anfang der Performance "Zentral: Organ" steht die japanische Tänzerin Kazue Ikeda in einer Vitrine mit durchsichtigen Plastikvorhängen. Sie befreit sich, krabbelt in die Freiheit. Später tanzt sie vor einer Wand, ihr Körper wird durch Videos verdoppelt und verdreifacht. Während zwei ihrer Kollegen immer neue Figuren mit Bettgestellen erproben.

Mal steht ein Bett senkrecht und sieht aus wie ein Häuschen, aus dessen Fenster man hinaus schauen kann. Dann erwacht es zum Leben und scheint seinen Besitzer anzugreifen. Die Zuschauer werden von Reizen überflutet, müssen sich orientieren, in einer Vielzahl paralleler Aktionen eine Struktur finden. Ist das der Vorgang, den wir Denken nennen? Und führt uns Regisseur Michael Schmidt direkt hinein in ein menschliches Gehirn.

So ist das immer in Performances. Sie stellen keine Thesen auf, sie öffnen Assoziationsfelder. Wer sich darauf einlässt, Mitschöpfer zu sein, hat viel von diesen Abenden. Wer passiv bleibt, dem bringen sie wenig.

Die Schriften des Hirnforschers Wolf Singer waren ein Ausgangspunkt für Michael Schmidt. Singer erklärt, wie beschränkt unser Bewusstsein ist. Wir können nur erkennen, was unser Hirn aufgrund seines Entwicklungsstandes für wichtig hält. Und das sei, so der Direktor des Max-Planck-Institutes für Hirnforschung in Frankfurt, nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit. Außerdem gebe es im Hirn keine Hierarchie, es sei ein komplexes System, das sich selbst organisieren muss.

Der Besucher wird zum Teil dieses selbst strukturierenden Prozesses. Als Sätze aus Sachbüchern per Video eingeblendet werden, lese ich plötzlich nicht mehr von links nach rechts und von oben nach unten. Ich springe mit den Augen umher, greife einzelne Worte heraus, versuche daraus einen Sinn zu konstruieren. Doch dieser spannende erste Teil der Performance wird unterbrochen. Plötzlich bitten die Tänzer die Zuschauer sich auf eine Seite des Raumes hinzustellen. Es gibt sogar Sitzplätze. Wir machen ein Spiel wie man es aus Wahrnehmungsworkshops kennt. Wir sollen die Augen schließen, den Kopf drehen, sie kurz auf- und wieder zu machen. Mit unseren Augen ein Foto schießen. Einige erzählen, was sie gesehen haben, und ein Tänzer setzt das direkt in Bewegung um. Das ist ganz nett aber nicht mehr so interessant wie zuvor. Immerhin nimmt man so den Raum bewusster wahr, der eine wichtige Rolle bei dieser Theaterreise ins Hirn spielt.

Der Boden ist mit Kopfsteinpflaster und Fliesen bedeckt. Die Decke ist aus Stein und sieht aus wie ein Schwamm. Die Tänzer schlagen an die Wände, der Hall wird elektronisch verstärkt. Immer noch findet das Ensemble vielschichtige, rätselhafte Bilder. Aber der Reiz der Entdeckung ist vorbei, aus einzelnen Zuschauern, die sich ihre eigene Aufführung erarbeiteten, ist ein Publikum geworden. Das auf eine Spielfläche schaut, ganz konventionell. Das System hat eine Struktur bekommen, plötzlich gibt es doch eine Hierarchie. Einen Moment denkt man an den wunderbaren Sketch von Otto Waalkes über das Innere des menschlichen Körpers: "Großhirn an alle: Fertig machen zum Ärgern!" Aber dann überwiegt die Achtung vor dem Mut, eins der komplexesten Themen der Gegenwart auf die Bühne zu bringen und zumindest im ersten Teil des Abends Anstöße zu geben, über das Denken nachzudenken.

Weitere Infos: www.tagtraum.de