Deutschtürken fühlen sich überall fremd
In seinem Stück "Istanbul" bringt Nuran David Calis Befürworter und Gegner Erdogans im Schauspiel Köln ins Gespräch. Als eine "Übung in Demokratie" beschreibt unser Theaterkritiker die Inszenierung.
Gegner und Befürworter Erdogans spielen zusammen ein Theaterstück? Das scheint kaum vorstellbar, aber der Autor und Regisseur Nuran David Calis ist auf solche Unternehmungen spezialisiert. Am Schauspiel Köln hatte "Istanbul" Premiere, ein Stück, das durch Recherchen entstanden ist. Die Ausweichspielstätte des Kölner Schauspiels im Stadtteil Mülheim liegt direkt neben der Keupstraße, einem türkisch geprägten Viertel, wo es 2004 einen Nagelbomben-Anschlag der NSU gegeben hat. Bewohner aus der Keupstraße stehen nun mit Schauspielern aus dem Kölner Ensemble auf der Bühne.
Der Schriftsteller Dogan Akhanli war Kommunist und wurde nach dem Putsch 1980 inhaftiert und gefoltert. 1991 floh er nach Deutschland. Als er 2010 wieder in die Türkei reiste, wurde er sofort wieder verhaftet und saß mehrere Monate in Untersuchungshaft. Nun erzählt er seine Geschichte im Depot 2 des Kölner Schauspiels. Aber nur bis zu dem Moment, in dem es um die Details der Folterungen geht. Dann übernimmt ein Schauspieler den Text. Sean McDonagh sitzt mit nacktem Oberkörper mit dem Rücken zum Publikum. Und selbst so sieht man ihn nur vermittelt, als Live-Video.
Die Geschichte soll berühren, aber nicht nur. Vor allem ist sie ein Argument sein in der Debatte über die heutige Türkei und ihren Präsidenten Recep Tayip Erdogan. Wieder sitzen viele kritische Journalisten und Intellektuelle im Gefängnis, die Haftbedingungen sind menschenunwürdig. Das darf nicht sein, darüber sind sich alle Beteiligten des Stücks "Istanbul" einig. Dennoch haben einige von ihnen bei der Volksabstimmung über das Präsidialsystem mit "Ja" gestimmt. Ayfer Sentürk Demir gibt es offen zu. Sie ist im westfälischen Höxter geboren, eine gläubige Muslima, die Kopftuch trägt. Die Schauspielerin Ines Marie Westernströer bekommt einen Wutanfall und nimmt Ayfer ins Kreuzverhör.
Riss durch Gesellschaft spaltet Ensemble
Menschen mit verschiedenen Lebenseinstellungen in einen Dialog zu bringen, ist ein zentrales Anliegen des Regisseurs und Autoren Nuran David Calis. "Istanbul" ist der dritte Teil einer Trilogie über den Glauben, den Alltag und die Spuren des Terrors. Die Texte entstanden in langen Gesprächen während der Proben. In der Aufführung spürt man, wie konfrontativ es dabei zugegangen sein muss. Ismet Büyük, Teppichhändler aus Köln-Mülheim, kann die Hände kaum ruhig halten, wenn Dogan Akhanli seine Sicht der türkischen Geschichte und Gegenwart ausbreitet.
Viele Deutsch-Türken fühlen sich unter ständigem Rechtfertigungszwang. In Deutschland gelten sie als Türken, in der Türkei als Deutsche, überall fremd. Erdogan ist jemand, bei dem sie sich aufgehoben fühlen, der ihnen Respekt entgegen bringt. Ayfer Semtürk Demir sagt, sie könne sich nicht vorstellen, dass in der heutigen Türkei gefoltert werde. Das löst Unruhe im Saal aus. Am Ende sitzt sie mit Ismet Büyük und Kultu Yurtseven auf der einen Seite der Bühne, die Schauspieler und Dogan Akhanli auf der anderen. Der Riss, der die türkische Gesellschaft spaltet, teilt auch das Ensemble. Ein frustrierender und dennoch starker Schluss eines ehrlichen Theaterabends, in dem alle Beteiligten viel Mut zeigen. Denn es ist schwierig, fundamental andere Meinungen als die eigene auszuhalten und sich dennoch in den Arm zu nehmen. Die Aufführung ist eine Übung in Demokratie.
Im Gespräch mit Dieter Kassel sagt Nuran David Calis: "Ich spüre auch in ihnen eine ganz große Sehnsucht nach Versöhnung, wo man an verschiedenen Polen des Universums sich befindet, sind wir dann doch ein Kosmos, den wir dann auch gemeinsam miteinander gestalten müssen".
Hören Sie das ganze Gespräch: