Theaterstück "Terror" mit de Maizière als Schöffe

Gerichtsverhandlung im Theatersaal

Der Schauspieler Timo Weisschnur steht bei einer Fotoprobe zum Stück "Terror" von Ferdinand von Schirach im Deutschen Theater in Berlin auf der Bühne.
Schuldig oder nicht? - Der Schauspieler Timo Weisschnur in der Rolle des angeklagten Piloten Lars Koch in Ferdinand von Schirachs "Terror". © picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
Von Christiane Habermalz |
Ein entführtes Flugzeug steuert auf ein Fußballstadion zu, wird von einem Kampfjet-Piloten abgeschossen. Ist er des Mordes schuldig? Bei der Inszenierung von Ferdinand von Schirachs "Terror" am Deutschen Theater Berlin durfte das Publikum - inklusive Bundesinnenminister Thomas de Maizière - abstimmen.
Ein Mann steht vor Gericht. Er ist angeklagt des Mordes an 164 Menschen - und er ist geständig: Ja, er hat sie getötet, alle. Ein klarer Fall von Schuld ist es dennoch nicht. Am Deutschen Theater wird "Terror" von Ferdinand von Schirach gespielt.
Der Angeklagte ist Pilot eines Kampfjets, der entscheiden musste, ob er ein Passagierflugzeug abschießt, das von einem Terroristen entführt und auf ein voll besetztes Fußballstadion gelenkt wird. Was tun? Der Pilot entscheidet sich für den Abschuss - gegen den ausdrücklichen Befehl des Hauptquartiers und gegen das Gesetz.

Darf das kleinere Übel gewählt werden?

164 Menschenleben gegen 70.000. Ist er schuldig? Am Ende der Aufführung muss das Publikum entscheiden. Nein, plädiert die Verteidigerin, denn er hat in einer ausweglosen Situation das kleinere Übel gewählt, Tausende Menschenleben gerettet.

"Die einzige Frage in diesem Verfahren, die Sie heute und hier gestellt bekommen, lautet: Durfte Lars Koch diese 164 Menschen töten? Gibt es Situationen in unserem Leben, in denen es richtig, klug und vernünftig ist, Menschen zu töten? Mehr noch, in denen alles andere absurd und sogar unmenschlich wäre?"
Doch die Staatsanwältin hinterfragt im Kreuzverhör die Entscheidung des Piloten. Was macht ein Menschenleben wertvoller als ein anderes? Die Zahl? Wäre es dann auch moralisch gerechtfertigt, einen Menschen zu töten, damit vier andere, die todkrank sind, dessen Organe eingepflanzt werden können?
"Nein, natürlich nicht."
Screenshot http://terror.kiepenheuer-medien.de/ über die Abstimmung des Publikums bei Theaterinszenierungen von Ferdinand von Schirachs "Terror".
Schuldig oder nicht? - Wie das Publikum bei Ferdinand von Schirachs Theaterstück "Terror" abgestimmt hat.© Screenshot / OpenStreetMap
"Warum nicht?"
"Es kann nur bei ganz großen Zahlen eine Ausnahme gemacht werden."
"Also: Eins zu vier reicht Ihnen da nicht?"
"Nein, sicher nicht."
"Wo genau ziehen Sie die Grenze, Herr Koch?"
"Das kann ich so gar nicht sagen. Das muss man von Fall zu Fall entscheiden."
"Sie meinen, dass Sie es von Fall zu Fall entscheiden?"
"Ich?"
"Ja. Ist es nicht so, dass Sie mit Ihrer Entscheidung eine pathetisch gesagt gottgleiche Stellung einnehmen? Sie dürfen allein entscheiden, ab welchem Verhältnis jemand weiterleben darf, wer stirbt und wer lebt, Herr Koch?"

Nachgespräch mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière

Der Fall wirft komplexe Fragen auf - nach Schuld und Verantwortung, nach dem Unterschied von Recht und Moral. Und das Deutsche Theater stellte sie gestern Abend nicht nur dem Publikum, sondern im Anschluss im Nachgespräch auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière, bis 2013 Verteidigungsminister.
Dabei wird deutlich: Fiktion und Realität liegen erschreckend nah beieinander. Zu Beginn seiner Amtszeit sei er als erstes darüber belehrt worden, was in einem solchen Extremfall, genannt "Renegade", zu tun sei.
"Da gibt es eine Taschen-Notfallkarte mit Telefonnummern. Ich muss dann ständig erreichbar sein, wenn ich nicht da bin. Und diese Belehrungen endeten dann immer mit dem Satz: Und dann müssen Sie entscheiden. Der Minister, nicht der Pilot."
Er sei dankbar, sagte de Maizière, dass er eine solche Entscheidung nicht habe treffen müssen. Und man könne auch vorher schlecht antizipieren, was man selber tun würde.
"Wir haben ja gerade Helmut Schmidt beerdigt, und Helmut Schmidt hat, vor der Entscheidung in Mogadischu, der Entscheidung, das Flugzeug zu stürmen, mit der Hand eine Rücktrittserklärung geschrieben: Wenn der Einsatz schief geht und viele Geiseln zu Tode kommen, trete ich zurück. Das hat er in die Schublade des Schreibtisches getan. Also, es gibt Situationen, da muss man eine solche Entscheidung treffen und zurücktreten."
Politik und Rechtsprechung haben sich mit dem Thema schwergetan. 2005 hat der deutsche Bundestag im "Luftsicherheitsgesetz" den Verteidigungsminister für den schlimmsten Fall ermächtigt, darüber zu entscheiden, ob Waffengewalt angewendet wird, im Zweifel auch gegen ein Flugzeug voller Unschuldiger.

Grundsatz der Unantastbarkeit der Würde des Menschen

Doch ein Jahr später hob das Bundesverfassungsgericht das Gesetz wieder auf. Es verstoße gegen den Grundsatz der Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Leben dürfe niemals gegen anderes Leben aufgewogen werden, so das Argument der obersten Verfassungsrichter. Werde damit nicht aber den Terroristen alle Macht in die Hand gegeben, sich nur hinter möglichst vielen Unschuldigen zu verschanzen? Hieße das nicht, der Rechtsstaat gibt auf? - fragt jemand aus dem Publikum.
Er habe lange Zweifel gehabt, doch letztlich sei er zu der Auffassung gekommen, dass das Bundesverfassungsgericht richtig entschieden habe, sagte de Maizière. Der Staat müsse auch in extremen Ausnahmesituationen das Grundgesetz garantieren und das Strafrecht anwenden. Nach der Vorstellung im Deutschen Theater hat er dennoch, wie auch die Mehrheit des Publikums, den Piloten Lars Koch für "unschuldig" befunden: Freispruch. Minister sind eben auch nur Menschen.
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