Theatertreffen 2020 als Stream

Die Kamera als große Gleichmacherin

04:51 Minuten
Szene aus dem Theaterstück "The Vakuum Cleaner" an den Münchner Kammerspielen. v.l.n.r.: Thomas Hauser, Julia Windischbauer, Walter Hess.
Szene aus "The Vakuum Cleaner" an den Münchner Kammerspielen. v.l.n.r.: Thomas Hauser, Julia Windischbauer, Walter Hess © Münchner Kammerspiele / Julian Baumann
Von Michael Laages |
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Wegen der Coronapandemie konnte das Theatertreffen in diesem Jahr kein Stück auf die Berliner Bühnen bringen. Immerhin sechs Inszenierungen waren im Netz zu sehen. Für Kritiker Michael Laages ist die Erfahrung keine Empfehlung für die Zukunft.
Am klarsten haben die Münchner Kammerspiele definiert, was da eigentlich zu sehen war, zum Beispiel bei der Aufführung "The Vacuum Cleaner" des japanischen Dramatikers und Regisseurs Toshiki Okada: Zu sehen war nämlich die "Dokumentation einer Vorstellung". Und zwar immer einer besonderen – in der wir nämlich nicht allein sind, nicht allein mit uns selber und unserem Blick auf die Bühne und das Spiel.
Die Totale im Theater bin ich – wie es auch jede und jeder andere im Raum. Dieses "Ich" im "Wir" macht das Theater, die darstellenden Künste generell aus. Und das ist – natürlich – nicht zu ersetzen.
Und das "Ich" im "Wir" wäre – wie immer – noch ergänzt worden durch den Ort: das Festival, die Stadt, das besondere Publikum jenseits all der Gegenden, in denen die ausgewählten Vorstellungen entstanden sind. All das, der besondere Ort mit allen Risiken und Nebenwirkungen, die ihm eigen sind, und das Gefühl vom "Ich" im "Wir", ist nun verschwunden – und ersetzt worden durch den großen Gleichmacher der Künste: durch die Kamera.
Was zeigt die Kamera?
Sie kann wie beim "Hamlet" in der Bochumer Inszenierung von Johan Simons zur Eröffnung und als Teil der "Starke Stücke"-Reihe auf 3sat fernseh-professionell eingesetzt werden.
Sie kann auch sonst den Blick durchaus schärfen und erweitern – etwa bei Anta Helena Reckes kryptischer Kunst-Fantasie "Die Kränkungen der Menschheit", auch in München entstanden wie die japanische Familienfabel mit Staubsauger. Die zeigte gestern immer zwei Bilder zugleich, zum einen, im kleinen Format, die Totale des Bühnenbildes aus drei übereinander und versetzt zueinander konstruierten Zimmern, und zugleich bildschirmfüllend groß das jeweilige Spiel im jeweiligen Zimmer.
Die Frankfurter Aufzeichnung von Helgard Haugs Produktion "Chinchilla Arschloch waswas" setzte drei Kameras ein: für die Totale der Bühne sowie zwei Halb-Totalen von rechts und links des Zuschauerraums; eine davon fing kurzzeitig auch Bilder vom Publikum ein.
Claudia Bauers Leipziger Tennessee-Williams-Inszenierung von "Süßer Vogel Jugend" arbeitet ihrerseits schon mit Kameras, in die hinein Schauspielerinnen und Schauspieler sehr nah kleinere und größere Passagen sprechen – die ohnehin fortschreitende Medialisierung des Theaters, auch in Katie Mitchells Hamburger Inszenierung "Anatomie eines Suizids" zu beobachten, kommt der virtuellen Präsentation, die jetzt als Notlösung diente, naturgemäß sehr entgegen.

Die Mühen des geführten Blickes

Aber die große Gleichmacherin raubt uns natürlich auch etwas: die Freiheit des Blicks. Sie sagt uns, gibt uns verbindlich vor, was wir gefälligst zu sehen haben im jeweiligen Moment. Und je mehr sie uns zeigt, desto mehr engt sie uns eben auch ein – perfiderweise.
Wer die Aufführungen des virtuellen Theatertreffens über jeweils volle Längen verfolgt hat, wird womöglich zudem eine sehr spezielle Ermüdung bemerkt haben – der durch die Kamera geführte Blick verliert nämlich sehr viel schneller den Fokus und die Konzentration; wahrscheinlich, weil eben nicht wir selber es sind, die entscheiden, was wir sehen – im "Ich" wie im "Wir".
Und wer mediale Präsentationen im Netz nicht nur als Notlösung, sondern vielleicht sogar - wie in diesem Sommer das Festival "Theaterformen" - tatsächlich als Chance für die eigene Neuausrichtung propagiert, sollte sich des lebensbedrohlichen Risikos bewusst sein: Wenn die Netz-Vorstellung nämlich irgendwann als "ausreichend" oder gar "gut" und vor allem sogar "innovativ" empfunden werden sollte, wird’s nicht nur des "ökologischen Fußabdrucks" wegen schnell keinen Grund mehr geben dafür, dass irgendwer irgendwohin fährt, um die eigene Kunst zu zeigen.
Denn das Netz ist ja immer schon da.
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