Kritischer Blick von Außen
Manches war ihm zu oberflächlich, manches hat ihn beeindruckt: Seunghyo Lee, koreanischer Chef des "Boom-Festivals", ist geladener Gast des Berliner Theatertreffens. Doch er bezweifelt, ob das Theater zukünftig neben anderen Medien noch bestehen kann.
Geladener Gast des diesjährigen Berliner Theatertreffens ist der Koreaner Seunghyo Lee, Chef des "Boom-Festivals", des wichtigsten Theaterfestivals seines Landes. Der Kurator und Dramaturg war schon oft bei Theaterfestivals in Europa und Deutschland zu Besuch. Und noch immer staunt er über den deutschen Theaterbetrieb:
"Das deutsche Theater ist berühmt für seine Schauspieler und für seine Organisation. Alles hier ist perfekt."
Aber seine Fragen bleiben oft unbeantwortet:
"Was ist Theater heute? Und warum stehen Schauspieler heute auf der Bühne?"
"'Common Ground' war mir zu oberflächlich"
Karin Henkels Kölner Inszenierung des Ibsen Stücks John Gabriel Borkman lieferte ihm keine Antworten. Und auch Yael Ronens „Common Ground" über den Jugoslawien -Krieg befriedigte Seunghyo Lee nicht.
"Es war mir zu oberflächlich."
In „Common Ground" wird der Konflikt mit den halb-dokumentarischen, halb-fiktiven Geschichten der Schauspieler erzählt.
"Ich habe kein Problem mit privaten Geschichten auf der Bühne. Sie können die Realität von Grund auf widerspiegeln. Aber wenn Künstler vorgeben, mit dem großen Ganzen Bescheid zu wissen, habe ich ein Problem."
Für Seunghyo ist es undenkbar, dass zum Beispiel der Konflikt zwischen Nord- und Südkorea so auf der Bühne verhandelt werden könnte. In seiner Militärzeit hat Lee den „Nicht-Krieg" an der Grenze tagtäglich erlebt. Als Offizier war er für eine Grenzpatrouille zuständig
"Meine Soldaten und ich wurden zum Schießen ausgebildet. Weil wir technisch gesprochen immer noch im Krieg sind. Meine Einheit war hoch oben im Gebirge stationiert. Wir waren komplett auf uns allein gestellt. Und dann passiert es, dass mit einem Mal Zigaretten fehlen. Das heißt, jemand in der Gruppe stiehlt. Aber wer?"
Nicolas Stemanns Blick auf die Realität der Flüchtlinge
Eine Situation wie aus einem Shakespeare-Drama oder einem Stück von Elfriede Jelinek. Nicolas Stemanns Inszenierung ihres Textes „Die Schutzbefohlenen" hat ihn beeindruckt, besonders Stemanns Blick auf die Realität der Flüchtlinge.
Es ist eine Realität, an der die Schauspieler letztendlich scheitern. „Wir können Euch nicht helfen. Wir müssen Euch doch spielen", sagen die Ensemblemitglieder an einer Stelle zu den Flüchtlingen auf der Bühne.
"Das Publikum sollte sich unbehaglich fühlen. Und die Künstler sollte nach etwas Neuem suchen."
Eine Inszenierung des Theatertreffen überraschte Lee - mit ihrem neuen und unbehaglichem Blick auf die Realität:
"Ich mochte Susanne Kennedy. Ihr Ansatz stellt die Theaterpraxis auf den Kopf. Die Schauspieler verschwinden. Sie haben noch nicht einmal ein Gesicht oder eine eigene Stimme."
Eingefrorene Szenen
In Susanne Kennedys Stück nach Fassbinders Film „Warum läuft Herr R. Amok?" wirken die Szenen wie eingefroren. Die Schauspieler tragen Masken, in denen sie wie Schaufensterpuppen aussehen. Ihre Stimmen kommen vom Band. Eine Ästhetik, die Lee an die Arbeiten des Japaners Orita Oriza erinnert, der seine Schauspieler mit Robotermenschen agieren lässt, oder an den lakonischen anti-dramatischen Inszenierungsstil von Tashiki Okada.
"Gerade im deutschen Theater geht es für mich oft um Übersteigerung oder Übertreibung. Die Übertreibung der Realität oder einer Situation. Vor 200 Jahren war das Theater vermutlich das stärkste Medium, um Realität darzustellen. Aber heute gibt es dafür bessere Medien wie Computer-Animation und 3 D Filme."
Aber was bleibt dann dem Theater? Der Kurator zieht an seiner Zigarette und schweigt. Vielleicht die Fragen zu stellen, auf die Seunghyo Lee selbst keine Antwort weiß.