Fast jeder heimatlos und ein Fremdkörper
Chancengleichheit, Einsamkeit, Widerstand und Terror: Das Theatertreffen der Jugend in Berlin befasst sich in diesem Jahr mit den sozialen, politischen und kulturellen Verwerfungen unserer Zeit. Eberhard Spreng zieht eine Zwischenbilanz.
Fragen von Ehre und Familieschande, von Chancengleichheit, Einsamkeit, von Körperbildern, von Widerstand und Terror, aber auch ökologische Fragen treiben die Jugendtheatergruppen um. Schon ein Blick in das Programmheft verrät: Das Jugendtheater befasst sich, wie Jurorin Ulrike Hatzer zufrieden konstatiert, mit zeitgenössischen Verwerfungen.
"Das Tableau ist sicherlich ganz klar, dass junges Theater und junge Akteure, Aktivisten, Protagonisten – das alles sind sie auf der Bühne – nicht nur Lust darauf haben sondern es als ihre Pflicht - so komisch das Wort auch klingt - sehen, sich mit ganz zeitgenössischen Fragestellungen zu beschäftigen. Die sind enorm politisch. Und es gibt ganz viele Produktionen, die sich, mittelbar natürlich, mit dem beschäftigen, was heute 'Welt' ist."
Dreizehn vorwiegend schwarze Akteure versammeln sich auf der Bühne. Wer sind sie? Wie können sie "wir" sagen? Als Schwarze? Deutsche? Migranten und Postmigranten? Und was heißt das für ihre Kultur? Und ihre Sprache? Und ihr Selbstbild?
Diskriminierung und Flüchtlingskrise
"One Day I went to *idl" der "Akadamie der Autodidakten” im Berliner Ballhaus Naunynstrasse erzählt von täglichen Situationen der Diskriminierung im Deutschland der Flüchtlingskrisen. Aber da ist auch der weiße Bosnier, den der Krieg im ehemaligen Jugoslawien vertrieben hat. Und Ojushola Ajose, der unter dem Pseudonym African Boy mit einem Rapsong bei Youtube einen Riesenerfolg erzielte, von dem diese Produktion ihren Titel bezog und ihren Spirit. Aber zunächst ist da der in Berlin geborene Matondo Castlo der in den kurzen Abend einführt:
"Was geht ab, meine Damen und Herren, mein Name ist Matondo, ich bin 22 Jahre alt und komme aus Berlin-Tempelhof: Meine Liebe, meine Heimat. Berlin ist die krasseste Stadt dieser Welt, Mann."
"I don’t speak German."
I don’t speak German. Zwei Schwarze auf der Bühne, aber verstehen sie sich deswegen schon? Das Stück spielt mit den Zuschreibungen und Erwartungshaltungen des Publikums, mit Wir- und Ihr-Begriffen und es experimentiert in einer ungemein energiegeladenen, körperbetonten Performance mit Bruchstücken eines zerfallenden Weltbildes. Die provisorische Heimat, in der sich diese 13 Akteure bestenfalls treffen können, sind Rap und Hip Hop.
"One day I went to Lidl
I went to shop lift in Lidl
Then I got caught in Lidl
Now I don’t go back to Lidl"
I went to shop lift in Lidl
Then I got caught in Lidl
Now I don’t go back to Lidl"
Kreolisierung der Migrantenkultur
Wo das Ballhaus Naunynstrasse mit seiner Theatergruppe von Refugees und postmigrantischen Jugendlichen, ein wenig in der Tradition seiner Blacknessdebatten, an einer Kreolisierung von Migrantenkulturen arbeitet, in einem Kulturraum für Verständigungsexperimente, konstatiert die Produktion "Frankfurt Babel" einen Ist-Zustand der Sprachverwirrung, für die der berühmte alttestamentarische Turmbau Modell steht. Im jungen Schauspiel Frankfurt und einem Jugendclub fanden sich jugendliche Geflüchtete zusammen, deren diverse Sprachen sich zu Beginn der Aufführung in babylonischem Stimmengewirr vermischen.
Arabische, italienische, persische, deutsche, nepalesische und andere Worte lösen sich für Momente aus der Stimmwolke. Später werden wir die Geschichten der jeweiligen Jugendlichen kennen lernen und ihre Namen - bis auf den eines Asylbewerbers, den zu nennen das Gesetz verbiete, wie die Aufführung behauptet.
Mit Definitionen von Männlichkeit und von Familienehre befassen sich zehn Bielefelder in der Produktion "Ehrlos". In eine Folge kurzer Szenen wird deutlich, dass es eine gemeinsame Vorstellung von Loyalität, Freiheit, von Pflichten und Rechten in der modernen Gesellschaft nicht gibt.
"In Europa findet man sowieso kaum ein Mädchen über Achtzehn, das noch Jungfrau ist. Das sind alles Straßenmädchen."
Vorurteile gehen hin und her, zwischen Türken, Russen und Deutschen, Muslimen und Christen, inklusive einiger Quizfragen, wo erraten werden muss, ob eine besonders frauenverachtende Stelle nun aus der Bibel stammt oder aus dem Koran. Das Stück "Ehrlos" operiert in biederem Dekor mit altbekannten Reibungen an den Bruchkanten der Kulturen.
Menschsein im Großstadtdschungel
Ist das Fremde nur noch eine Frage von Kultur, Herkunft, gar Rasse? Glücklicherweise eröffnete das diesjährige Theatertreffen der Jugend mit der optisch und choreografisch überaus kunstvoll gefertigten Bearbeitung von zwei Texten der Dramatikerin Gesine Danckwart. Für Regisseur Yves Hinrichs geht es um ...
"... dieses Menschsein im heutigen Großstadtdschungel, im heutigen Chaos der Beschleunigung, Überangebot an kommerziellen, an medialen Dingen, sich da zurecht zu finden und sich da nicht zu verlieren – gerade für junge Menschen eine große Herausforderung. Da gibt es ja auch eine wunderbare Stelle bei Gesinde Danckwart, wo jemand beschreibt: Jetzt bin ich auf dieser Party, was soll ich dort; ich habe Angst dass man mir 'mich' ansieht, dass man Angst hat, dass andere sehen, wer man eigentlich selber ist oder dass es einem nicht gut geht."
Benutzt und weggeworfen
"Benutzt und weggeworfen, möchten Sie mich vielleicht als Ganzkörperpräservativ benutzen? Ich bin leicht zu haben."
Menschen scheitern am Vorbild, am Selbstbild und werden sich selbst fremd. Und schließlich werden sie zu Dingen, wie schon alles andere in der Welt des Konsums. Das Leipziger "Wunderland" macht deutlich, dass hinter den derzeit herrschenden Debatten um die vermeintlich Fremden eine ganz andere Herausforderung wartet. Die Frage, wie man mit einer Zivilisation klar kommen soll, in der sich fast jeder heimatlos und als Fremdkörper fühlt, egal wo er ist.