Theaterwunder in der Niederlausitz

Ein Porträt von Hartmut Krug |
In einer Region, die von 25 Prozent Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit gezeichnet ist, macht ein Theater Mut. Die "Neue Bühne Senftenberg" macht mit zeitgenössischen Stücken und dem Anspruch, Theater für alle zu machen, von sich reden und wurde zu einem der vier "Theater des Jahres" gekürt.
Alles begann im Oktober 1946 in einer umgewandelten Turnhalle mit dem "Land des Lächelns." Nachdem das Senftenberger Theater sich mit Inszenierungen umstrittener zeitgenössischer Dramatik seinen eigenen Platz in der DDR-Theatergeschichte erobert hatte, erhielt es zwar einen modernen Theaterneubau mit versenkbarer Orchesterbühne, der im Wendejahr 1990 fertig wurde, aber nachdem 1993 auch das Musiktheater abgewickelt werden musste, war vom einstigen Dreispartentheater nur noch das Schauspiel übrig.

Das brandenburgische Senftenberg, rund einhundertzwanzig Kilometer von Berlin entfernt in der Niederlausitz liegend, Hoyerswerda und Dresden sind nicht weit, es ist einhundert Jahre lang vom Braunkohlebergbau geprägt worden. Mit dem ist es seit der Wende vorbei und das einstige "Theater der Bergarbeiter" heißt nun "Neue Bühne Senftenberg".

Der neben der Stadt Senftenberg das Theater finanzierende Landkreis Oberspreewald-Lausitz ist mit 50 Millionen Euro verschuldet und gilt als der europaweit ärmste Ländkreis. Und während Senftenbergs Einwohnerzahl sich von einst 31.000 kontinuierlich verringert auf zur Zeit 25.000, wächst die Arbeitslosigkeit auf offiziell fast 25 %.

Sewan Latchinian: "Sicherlich ist das eine Situation, die immer wieder klar macht, das Theater nicht selbstverständlich ist. Deshalb ist das Engagement gerade auch hier im Armenhaus, im Osten Deutschlands, in der so genannten Provinz besonders wichtig."
Gleich in seiner ersten Spielzeit hat der Schauspieler, Regisseur und Intendant Sewan Latchinian dem kleinen Theater mit großem Einsatz regionale und überregionale Aufmerksamkeit beschert:

" Wir hatten 50.000 Zuschauer, wir hatten 300 Veranstaltungen, wir haben 23 Premieren gemacht, wir hatten 10.000 Zuschauer mehr als im Vorjahr. Wir haben eine Auslastung von zirka 75 Prozent und sind 100 Mitarbeiter und achtzehn Schauspieler. "

Ein Transparent flattert über die Straße und weist mit dem Wort "Werte" direkt auf das Theater. Die Neue Bühne Senftenberg startet in Latchinians zweite Spielzeit mit einem "Glückauffest" genannten Theaterspektakel.

Der Zuschauer kann sich am Abend unter zwölf Stücken deutscher Klassik vier aussuchen und anschauen. Die Theaterleute wollen herausfinden, ob und wie diese alten Stücke zwischen Goethe und Schiller, Heine, Kleist und Lessing den Menschen heute bei deren Suche nach Orientierung im Leben helfen können. Das Theater will gegen Lethargie und ein Gefühl von Gedemütigtsein anspielen. Theater also als Lebenshilfe?

"Lebenshilfe klingt ein bisschen so wie nur Nachhilfeunterricht, das ist nicht gemeint. Natürlich, Impulse geben, das Leben von verschiedenen Seiten her betrachten zu wollen, nicht nur immer von der einen Seite, wie sie häufig von den Medien vorgegeben wird, und dann wird eine Region abgestempelt als das Armenhaus Deutschlands, das kann's nicht sein. Also insofern hat es auch mit Lebenshilfe... ich würd's eher locker begreifen als Theater der sozialen Aktion, weil es mehr beinhaltet an Phantasie und ästhetischen Entwürfen. "

Wie Intendant Latchinian betont auch Chefdramaturgin Gisela Kahl, dass es in Senftenberg stets um sinnliches Theater gehen soll. Die ästhetischen Formen können dabei ganz unterschiedlich sein.

Da wird beim Klassik-Glückauffest erst ein zunächst in Vor-, dann in Nachwendezeit spielender Faust auf die Bühne kommen, der in Thomas Gottschalks "Wetten, dass"-Show eingebettet und fast kabarettistisch aktualisiert ist, aber es gibt auch eine ästhetisch avancierte Version von Schillers "Räubern" durch die Regisseurin Amina Gusner, bei der Karl mit einer Rockband seinen Protest probt und jeder seine Gefühle recht expressiv ausdrückt. So, wenn Karl seinen Brief an den Vater singend vorträgt und sein Bruder Franz seine Kommentare dazu brüllt.

In Senftenberg wird Theater für alle versucht: ein Spagat, bei dem man das Publikum weder nur bedienen noch unterfordern will. Im Sommer hat das Theater im Amphitheater Großkoschen am Senftenberger See mit einem Musical über Camping und einem bunten Spektakel mit den Digedags, den beliebten DDR-Comicfiguren, ein Komödienfestival veranstaltet.

Zugleich ist es aber dem Ensemble auch gelungen, Kleists "Der zerbrochene Krug" zu einem Publikumsrenner zu machen und für Schillers "Kabale und Liebe" nicht nur Schulpublikum zu finden.

Ob Wedekinds "Frühlingserwachen" in der Sprache heutiger Jugendlicher in Senftenberg davon erzählt, wie Pubertierende Leistungsdruck und Schönheitswahn ausgesetzt sind, oder ob bei der Uraufführung von Volker Brauns "Was wollt ihr denn" Manne aus Guben in einer Strandburg in Ostende haust und mit Asylanten konfrontiert wird, von denen einer als lebende Blutkonserve dient, immer spürt man das große Engagement des Ensembles:

Latchinian: "Wir versuchen jeden Tag, aus materiellem Mangel politischen Reichtum zu kreieren. Wir verdienen alle besonders wenig und arbeiten besonders viel. Wir versuchen Geschichten zu erzählen, wir versuchen Theater für alle zu machen und wir versuchen zu überleben. Und wir spielen und inszenieren und arbeiten gegen unsere Schließung an. "

Der Neustart der Neuen Bühne Senftenberg mit Sewan Latchinian und seiner Mannschaft begann letztes Jahr mit dem ersten Glückauffest, das ausschließlich zeitgenössische Stücke vorstellte. Ein Wagnis, das aufging, weil das Publikum merkte, auf der Bühne werden seine Probleme verhandelt, und die Theaterleute gehen, ohne sich ästhetisch anzubiedern, mit einem breiten Formenspektrum auf ihr Publikum zu.

Die Neue Bühne Senftenberg ist ein Theater des Jahres, weil es seine Kunst wie sein Publikum gleichermaßen ernst nimmt. Senftenberg zeigt, wozu das deutsche Stadttheater selbst mit geringen Mitteln fähig ist.