Gefeierte Ödipus-Oper
In London war "Thebans", die Oper um die Herrscherfamilie des Ödipus, bereits euphorisch gefeiert worden. Jetzt ist die Inszenierung des britischen Stardirigenten Pierre Audi am Theater Bonn aufgeführt worden und auch dort gab es viel Beifall für die Koproduktion.
Er hat spät angefangen. Mit seiner ersten Arbeit für die Opernbühne hat der englische Komponist Julian Anderson gewartet, bis er Mitte Vierzig war. Mit Sinfonien, Konzerten und Kammermusikwerken hatte sich Anderson da längst einen Namen gemacht. Dafür ist es gleich eine ganze Trilogie, die sein Debut als Musikdramatiker markiert. "Thebans" – unter diesem Sammeltitel hat er die drei Stücke von Sophokles, die um die unglückliche Herrscherfamilie des Ödipus kreisen, auf die Bühne gebracht. Sein Librettist ist der bekannte britische Dramatiker Frank McGuiness, und die Uraufführung im Mai 2014 an der English National Opera wurde von der Kritik einhellig gefeiert.
Koproduzent war von vornherein das Theater Bonn, und dort fand am Wochenende die deutsche Erstaufführung statt: in der Inszenierung von Pierre Audi aus London, mit dem Beethovenorchester unter der Leitung von Johannes Pell im Graben und dem Ensemble des Bonner Theaters (plus einigen Gästen) auf der Bühne. Und auch hier fand das Werk ungeteilten Beifall.
Zusammenprall des Individuums mit der Gesellschaft
Man könnte sich gut vorstellen, dass dieser Erfolgsweg der "Thebans" weitergeht. Anderson hat eine starke Geschichte gewählt – Mc Guinness hat sie sehr konzise, in schnörkelloser Sprache, eingerichtet. Dem Sog kann man sich nicht entziehen: in den beiden Ödipus-Dramen wird das Echolot ganz tief ins Individuum hineingesenkt: Ödipus erkennt und büßt seine Schuld als Mörder seines eigenen Vaters und Gatte der eigenen Mutter. In der Fortsetzung der Geschichte steht die Tochter Antigone im Mittelpunkt. Es geht um den vernichtenden Zusammenprall des Individuums mit der Gesellschaft. Wenn wir keine anderen Mythen hätten als diesen, würden wir doch die beiden Grundgegebenheiten menschlicher Existenz reflektiert finden: Der einzelne im Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen.
Es ist also schon ein glücklicher Griff, dass Anderson und McGuiness diesen Stoff in einem Atemzug abhandeln, in gut anderthalb Stunden äußerst komprimiertem Musiktheater. Die Reihenfolge der Ereignisse verändern sie dabei: nach der Entlarvung des Ödipus folgt der tödliche Zusammenstoß der Antigone mit dem totalitären Staat ihres Onkels Kreon, der Ödipus beerbt hat. Dann erst das Ende des Ödipus auf Kolonos, das in dieser Erzählweise zu einem fast jenseitigen Zusammentreffen der Wiedergänger und Untoten wird.
In einem spannenden Wechsel von blockartigen Chören und farbig ausdifferenzierten Soli schildert Anderson den peinvollen Prozess, den Ödipus gegen sich selbst führt. Im zweiten Teil steigert sich das Ganze zu einer hochdramatischen Auseinandersetzung, in der Musik herrschen strenge Rhythmen, perkussive Elemente und martialische Klangfarben vor. Der dritte Teil schließlich führt in fast surreale Welten und bietet magisches Klangtheater. Den Wald von Kolonos lässt Anderson als Innen- und als Außenwelt zugleich wirken. Hört man heisere Vogelschreie und ächzende Bäume oder gemarterte Seelen? Und wie macht der Komponist das in seiner alchimistischen Klangwerkstatt, welche Instrumentenkombinationen, welche Stimmeffekte des unsichtbaren Chores verbindet er zu so unerhörten Wirkungen? Anderson erweist sich in diesem dritten Teil als ein Klangforscher und Instrumentationskünstler, der seinesgleichen sucht in der zeitgenössischen Musik. Sicher ist nur: alles ist menschengemacht in diesem tönenden Kosmos, elektronische Mittel setzt der Komponist hier nicht ein.
Das Solistenensemble ist vorzüglich
Die musikalische Realisierung lässt in Bonn keine Wünsche offen. Das Solistenensemble ist ohne Ausnahme vorzüglich. William Dazeley als Ödipus schafft ein faszinierend ambivalentes Charakterbild. Man weiß nicht, ob man seine sängerische Souveränität oder sein identifikationsstarkes Spiel mehr bewundern soll. Emotional bewegend auch Yannick-Muriel Noah als Antigone. Peter Hoare als Kreon – schon bei der Uraufführung an der ENO dabei – gibt den kraftvollen Widerpart. Der Chor meistert seine Riesenaufgabe ebenfalls mit Bravur. Bonns junger erster Kapellmeister Johannes Pell nutzt beherzt die Riesenchance, die ihm Andersons meisterhafte Orchesterbehandlung bietet, und macht aus "Thebans" eine Sternstunde für das Beethovenorchester.
Die szenische Lösung, die Pierre Audi und seine Ausstatter Tom Pye und Christoph Hetzer für die Uraufführung gefunden haben, ist nun auch in Bonn zu sehen. Sie ist zweckdienlich in jeder Hinsicht. Über die gängige Archaisierung mit rauen Steinwänden, kahlen Bäumen und Treppenlandschaften, die antike Stoffe heute oft auf der Bühne erfahren, geht sie nicht hinaus. Die Regie ist recht statisch, setzt wenig szenische Impulse – sie hindert aber jedenfalls nicht daran, sich voll und ganz auf die Musik zu konzentrieren. Ärgerlich sind nur die zwei Pausen: 100 Minuten Musikerlebnis zu 60 Minuten im Foyer – das ist ein krasses Missverhältnis.
Vielleicht wird es ja Gelegenheit geben, andere Ansätze kennenzulernen. Andersons Oper könnte zu den wenigen Novitäten gehören, die es schaffen ins Repertoire. Wegen ihrer überzeugenden künstlerischen Kraft. Und auch deswegen, weil sie es sich leisten kann, auf Extravaganzen zu verzichten. Es ist extrem gut geschriebene Musik für ein ganz normales Sinfonieorchester und für ein ziemlich normales Opernensemble (lediglich ein Countertenor fällt ein bisschen aus dem Rahmen). Und davon sollte es ja mehr geben als in London und in Bonn. Wenn einige von ihnen auf der Suche nach packenden neuen Stücken sind, könnten sie sich "Thebans" von Julian Anderson anschauen.
Weitere Informationen zu "Thebans" am Theater Bonn finden Sie auf der Homepage.
Weitere Informationen zu "Thebans" am Theater Bonn finden Sie auf der Homepage.