"Thema ist eine subtil rassistische Welt"

Thomas Ostermeier im Gespräch mit Susanne Burkhardt |
Begriffe wie Ehre, Treue und Kameradschaft sind nicht mehr von gestern, sagt Thomas Ostermeier, Leiter der Berliner Schaubühne. Er entdeckt sie in der heutigen Gesellschaft ebenso wie in Shakespeares Tragödie "Othello", die unter seiner Regie im Rahmen des "Hellenic Festival" in Griechenland zur Aufführung kam.
Stephan Karkowsky: "Othello" von Shakespeare – hier geht es um Verrat, Vertrauen, bedingungslose Liebe, Lüge und Selbstzerstörung. 400 Jahre alt ist diese Geschichte, langweilig wird sie nie. Heute hat Thomas Ostermeiers Inszenierung des "Othello" Premiere im griechischen Epidauros. Susanne Burkhardt hat mit Ostermeier gesprochen und ihn als Erstes gefragt, welche der vielen Themen in "Othello" ihn am meisten interessiert haben – etwa die Eifersucht?

Thomas Ostermeier: Ja, wenn man sich ein bisschen mehr damit beschäftigt, merkt man, dass dieses Klischee über "Othello", was zunächst einem in den Kopf kommt, Eifersucht nur ein Aspekt des gesamten Stücks ist. Ich hab' das Gefühl, dass er hauptsächlich sich damit beschäftigt, was Liebe ist und verschiedene Spielarten von Liebe. Also ich glaube, der Urgrund des Motors dieses Stücks, nämlich die Intrige Jagos oder das Projekt Jagos kommt auch aus enttäuschter Liebe. Es ist so ein Rachefeldzug von jemandem, der einen anderen liebt und sich zurückgesetzt fühlt und diese Liebe nicht erwidert sieht, dadurch, dass er nicht zum Leutnant befördert wird. Und aufgrund dieses Zurückgesetztseins und auch dieses Verrats, den Jago empfindet, entspinnt sich diese ganze Intrige und der Rachefeldzug Jagos.

Das ist eine Spielart von Liebe, dann gibt es die ganzen verschiedenen Paarbeziehungen, wo es ja auch alle möglichen Spielarten gibt, nicht nur die Othello-Desdemona, wo man vielleicht auch eher davon sprechen muss, was die beiden jeweils in den anderen hineinprojizieren, aber auch in der Beziehung von Desdemona zu ihrem Vater, eine enttäuschte Liebesbeziehung vom Vater zur Tochter, die Tochter, die die Liebe des Vaters enttäuschen muss, weil sie hinter seinem Rücken geheiratet hat, die Beziehung zwischen Emilia und Jago – irgendwie hat man das Gefühl, dass die vielen Jahren, wo sie zusammen sind, irgendwie das erotische Interesse aneinander verloren haben und sie über diesen Raub des Taschentuchs versucht, die Liebe zu ihrem Mann zurückzugewinnen. Also sie enttäuscht ihre Freundin, um Liebe wiederzubekommen.

Und ich habe das Gefühl, dass diese ganz vielen Spielarten von Beziehungen und von Liebe durchdekliniert, und ein Hauptaspekt ist natürlich Eifersucht, aber ein anderer Aspekt ist eben Projektion, also die Projektion von was sehe ich in dem anderen, was sehen die anderen in dem anderen. Othello wird unterstellt eine gewisse Potenz aufgrund seiner Hautfarbe, also das Klischee, was man mit potentem schwarzen Mann aus Afrika verbindet, Desdemona unterstellt ihm was anderes oder projiziert in ihn was anderes rein, nämlich das Projekt, aus diesem wilden Krieger einen Zivilisierten zu machen, ihn nahezu zu erziehen, also auch diese Projektionsfläche, etwas, was in ihrem Kopf stattfindet und nicht unbedingt etwas, was der Wahrheit entspricht.

Er projiziert in sie die reine Unschuld rein, sie ist aber mehr als die reine Unschuld, sie ist fast eine Gegenfigur zu Ophelia, weil es ein sehr starker Charakter ist, der sehr selbstbewusst sich von ihrem Vater lossagt und sich als ihr Projekt dafür entscheidet, der gesamten weißen Gesellschaft Venedigs zu beweisen, dass so eine Beziehung zu einem schwarzen Mann möglich ist, dass man diesen schwarzen Mann nicht nur als jemanden benutzen kann, der Venedig befreit oder als Kriegsherr aus dieser Notlage herausbringt, sondern dass das auch ein ganz normaler Mensch ist. Oder so, wie es Shakespeare selber formuliert: Seine Seele ist viel eher weiß. Also es ist eigentlich ein sehr assimilierter Schwarzer in der weißen Gesellschaft, assimiliert "nur noch" in Anführungsstrichen das Problem der Hautfarbe hat.

Susanne Burkhardt: Und eigentlich ist dieser Othello ja auch ein Mann von gestern, könnte man sagen, einer, für den Ehre und Treue mehr zählen eigentlich als Gefühl und Verstand.

Ostermeier: Also diese Begriffe Ehre muss man jetzt alle durcharbeiten. Ehre ist einmal eine Sache, die heutzutage von uns nicht mehr so benannt wird. Aber, glaube ich, ein ganz wichtiges Phänomen in unserer Gesellschaft ist der gute Ruf und wie schnell dieser gute Ruf kaputt zu kriegen ist von kleinen boulevardesken Beispielen wie Michel Friedman oder Herrn Immendorff, dann weiter zu den jüngsten Missbrauchsfällen, dem Vorwurf dessen. Also ich glaube, dass der Ruf, der ja auch der gute Ruf oder die Reputation ja nur eine Abwandlung von Ehre ist oder die Ehre in dem Stück zumindest so behandelt wird, dass man sagt, was ist Ehre, es ist der gute Ruf. Und wenn der zerstört ist, dann ist eigentlich, wie Jago es einmal sagt, alles ruiniert – also mein Portemonnaie kann man mir klauen, aber meine Ehre, da klaut mir jemand, was ihm nichts bringt, mir aber alles bedeutet. Ich glaube, dass das noch ganz viel zu tun hat mit unseren heutigen Lebens- oder sozialen Wirklichkeiten.

Wir nennen es anders. Ehre klingt wie ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert, Treue, wenn man sich unterhält mit Leuten, die in Afghanistan waren, über Kameradschaft oder Soldatenehre, Treue ist im Krieg ein ganz wichtiger Begriff. Wir sind ein Land, was sich an den Kriegen an den Peripherien unserer Wirtschaftswege beteiligt, und deswegen sind auch diese Begriffe wie Treue oder Kameradschaft Begriffe, die wieder zurückkommen. Dass Othello so seltsam antiquiert scheint, wie Sie jetzt in der Frage behaupten, liegt bestimmt daran, dass er ein anderes Projekt symbolisiert, nämlich das Projekt des Kriegers oder einer Kriegergesellschaft, und der Andere, Jago, dessen Waffen die Sprache sind. Aber ich glaube, dieses Projekt von militärischer Stärke oder Potenz oder männlicher Potenz wird natürlich in unseren intellektuellen Kreisen ein bisschen von sich gewiesen, dass es das noch gibt, aber es sind nach meinem Gefühl Phänomene, die wieder sehr stark zurückkommen.

Burkhardt: In der "Othello"-Aufführungstradition spielen fast immer Weiße den wilden fremden Schwarzen, auch Ihr Hauptdarsteller, Sebastian Nakajew, ist weiß – warum?

Ostermeier: Sebastian Nakajew ist weiß und er ist qua seiner Wirkung und seiner Herkunft jemand, der wie nur wenige vermitteln kann, dass er von unten kommt und das glaubhaft vermitteln kann. Also ich will jetzt nicht sagen, dass er ein wirklicher Idealprolet ist, aber es ist eine starke ostdeutsche Identität, mit seinem ganzen familiären Hintergrund, Eisenhüttenstadt und so, das war für mich ein ganz wichtiger Punkt für die Besetzung dieser Rolle. Diese Klassenfrage in der Tat, also diese Frage nach: Wo kommt der her und wo ist er gelandet? Und das teilt er mit Jago, der auch von ganz unten kommt, der sich auch in der militärischen Hierarchiewelt nach oben gearbeitet hat. Und die militärische Welt ist natürlich auch nur eine Parabel auf eine soziale Wirklichkeit verschiedener sozialer Wirklichkeiten oder Gruppen heute.

Wir thematisieren das, dass das ein Weißer spielt, unser Othello, er wird in dem Stück schwarz, also dass das ein Stück eines Weißen ist, der für einen weißen Darsteller eine schwarze Rolle geschrieben hat und dass das Stück behauptet, seine Seele ist eigentlich weiß, ist für mich auch wieder eine Paraphrase auf dieses Thema von Shakespeare "Sein und Schein". Also der scheint schwarz, weil er schwarz angemalt ist, dahinter ist aber die Maske eines eigentlich weißen Bewusstseins und eines extrem assimilisierten Bewusstseins, was nur noch das Problem der angemalten schwarzen Hautfarbe hat. Also für mich ist das etwas Theatrales oder etwas Maskenhaftes. Und das versuchen wir in der Aufführung auch zu thematisieren.

Burkhardt: Wer interessiert Sie mehr, Othello oder Jago?

Ostermeier: Ich glaube, das Stück heißt zu Recht "Othello". Wenn ich jetzt ein guter Regisseur sein will, sage ich natürlich, Othello und Jago interessieren mich beide, aber die Tragödie hat Othello, also die wirkliche Tragödie erlebt Othello. Der wird komplett gebrochen, innerlich gebrochen. Othello ist jemand, der von ganz unten kommt, der versklavt war, der sich in dieser venezianischen Gesellschaft überassimiliert hat, der seinen Glauben abgelegt hat, der katholisch geworden ist, die Religion dieses Staates angenommen hat, der sich durch Kampf, durch Krieg, durch Kriegersein nach oben gearbeitet hat. Das sind die Erfahrungen, die er kennt, und er hat nie die Erfahrungen gemacht, irgendwo angekommen zu sein, aufgehoben zu sein.

Das heißt, er kann seinem eigenen – dann finde ich es in der Metapher sehr heutig – er kann seinem eigenen Glück nicht trauen, wenn es denn da ist, und hält sich in anderen Bereichen, wo er sich durch seine Erfahrungen, die er gemacht hat, mehr auskennt, nämlich dem Bereich von männerbündlerischer Treue, Freundschaft, Kameradschaft und auf den anderen vertrauen. Also ich habe das Gefühl manchmal, er fühlt sich in dem Pakt mit Jago zu zerstören mehr zu Hause und wohler als in der Ehe und der Liebe zu Desdemona, weil er das mehr kennt, und Desdemona ist eigentlich eher das Symbol dafür, dass er seinem eigenen Leben, wenn es denn nicht mehr gefährdet ist, nicht traut.

Burkhardt: Stichwort männerbündlerische Treue: Shakespeare hat mit "Othello" ja auch ein Stück über männliche Konkurrenz geschrieben und über männliche Karrieren, das haben Sie gerade schon angesprochen, also über Strategien gesellschaftlicher Ausgrenzung, zum Beispiel über Rassismus oder über Sexismus. Ist das ein Blick, der Sie besonders interessiert?

Ostermeier: Na ja, das Interessante ist an dieser venezianischen Gesellschaft, dass sie sich in so vielen Bereichen fast wie einer Art Nukleus unserer Wirklichkeit heute ähnelt. Es ist eine Handelsnation, die sich imperialistisch ausgebreitet hat, fast den gesamten Mittelmeerraum beherrscht, viel zu klein ist, um die Kriege zur Sicherung ihrer Handelswege selber führen zu können, und an den Rändern dieses Reiches Kriege führen muss und das von Söldnern getan wird. Und in dem Zusammenhang ist natürlich total interessant, was Köhler vor Kurzem gesagt hat, dass wir uns daran gewöhnen müssen, zur Sicherung unserer Exportwege Kriege zu führen. Da ist eine große Ähnlichkeit, und natürlich ist diese venezianische Gesellschaft auch sehr ähnlich in dem, dass sie vordergründig keine rassistische Gesellschaft ist.

Weil natürlich ist der Moment, wo das auf Messers Schneide steht, das Glück der beiden, wo sie vor dem Dogen stehen und der Doge Othello eigentlich braucht und der Vater von Desdemona, Brabantio, sagt, das geht überhaupt nicht, das ist ein Hexer, der hat meine Tochter mit Drogen oder Rauschmitteln irgendwie verzaubert, entscheidet sich der Doge von Venedig, weil er ihn braucht, für den Schwarzen und ist offen unrassistisch, nicht rassistisch, gebraucht ihn, braucht ihn und kann sich deswegen Rassismus nicht leisten. Und das ist es natürlich auch sehr nah dran an unserer Gesellschaft. Wenn man an Michael Jackson denkt, dessen Traum es ein Leben lang war oder zum Teil seines Lebens, weiß zu werden, dann fragt man sich ja auch, warum ist das so, wenn man in einer offen unrassistischen amerikanischen Gesellschaft lebt, die ja von sich behauptet, offen nicht rassistisch zu sein oder es versucht zu haben, das zu überwinden. Das ist natürlich ein Thema. Also das Thema ist eine subtil rassistische Welt.

Sie können die Premierenkritik von Hartmut Krug zu "Othello" in Epidauros in unserem Audio-on-Demand-Angebot bis zum 8.1.2010 als MP3-Audio hören.

Service:
Am 9. Oktober ist Thomas Ostermeiers "Othello" erstmals in der Berliner Schaubühne zu sehen.

Links bei dradio.de zum "Hellenic Festival":

Chor trifft Krise
Drei Theaterstücke in Athen kreisen um den Prometheus-Mythos und seine Aktualität


Ur-Tragödie auf Ur-Freilichtbühne
Dimiter Gottscheff inszeniert "Die Perser" von Aischylos beim "Hellenic Festival" in Epidaurus


Antiker Klassiker mit Berliner Handschrift
"Die Perser" mit dem Griechischen Nationaltheater


Antikisierendes Stück im Amphitheater
Helen Mirren spielt "Phaedra" von Jean Racine beim Hellenic Festival in Epidaurus


Über Schuld und Moral
"Phädra" mit Helen Mirren in antiker Kulisse
Mehr zum Thema