Theodor W. Adorno: "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag"
Mit einem Nachwort von Volker Weiß
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
90 Seiten, 10 Euro
Antifaschistische Flaschenpost
07:07 Minuten
Der Vortrag "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" von Theodor W. Adorno ist auch nach 50 Jahren noch aktuell. Offenkundig sind Parallelen der Ursachen des Aufstiegs rechtsextremer Parteien - ebenso wie das, was dagegen zu tun ist.
"Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch", hat Theodor W. Adorno 1951 in einem Aufsatz geschrieben. Da war der deutsche Philosoph und Soziologe gerade aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt, um in Frankfurt am Main das von den Nazis geschlossene Institut für Sozialforschung wieder aufzubauen. Jetzt, 50 Jahre nach seinem Tod, ist ein Vortrag erstmals in Druckform erschienen, den Adorno 1967 gehalten hat, und der vom Suhrkamp-Verlag als "Flaschenpost an die Zukunft" bezeichnet wird. Der Titel des schmalen Bändchens: "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus".
Der "Verband Sozialistischer Studenten Österreichs" hatte Adorno im April 1967 nach Wien eingeladen, und ihn gebeten, Auskunft darüber zu geben, warum sich 22 Jahre nach Kriegsende in Deutschland ein "neuer Rechtsradikalismus" breitmachte. Die 1964 gegründete NPD hatte sich in kürzester Zeit von einer konservativ-nationalistischen in eine rechtsradikal-faschistische Partei gewandelt und quasi aus dem Stand heraus den Einzug in die Länderparlamente von Bayern, Bremen, Hessen und Rheinland-Pfalz, Niedersachen und Schleswig-Holstein geschafft.
An frühere Studien angeknüpft
Adorno entwickelt keine fundierte Faschismustheorie, sondern nennt nur einige "Aspekte", um die sozialen, politischen, psychologischen Ursachen des Rechtsradikalismus zu verstehen. Er knüpft an seine "Dialektik der Aufklärung" und das Umkippen von Kultur in Barbarei an, an seine Studien zur "Autoritären Persönlichkeit", die sich nach einem starken Führer sehnt, um dem eigenen unbedeutenden Leben einen Sinn zu geben und wenigstens als Mitläufer an Macht und Herrschaft partizipieren zu können.
Adorno kritisiert die verdrängte Aufarbeitung der Nazivergangenheit: Allein die "Erwähnung von Auschwitz" bringt damals die Menschen, die ein Ende der "Schulddebatte" wollen, zum "Weißglühen". Hier finden sich Parallelen in der Rhetorik der AfD, die etwa eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" fordert.
Die Rechtsradikalen sind für Adorno "Wundmale" und "Narben" einer Demokratie, die für viele bloße Behauptung geblieben ist: "Demokratie" ist ihrem "eigenen Begriff bis heute noch nicht voll gerecht" geworden.
Schere zwischen Arm und Reich
Weil Adorno die Differenz zwischen dem freien Vortrag und der schriftlichen Darlegung nicht aufheben mochte und seine spontanen mündlichen Interventionen, die nur auf ein paar Stichwörtern beruhten, nicht wissenschaftlich überarbeiten wollte, schlummerte der Mitschnitt des Vortrags lange im Rundfunkarchiv. Angesichts der erschreckenden Erfolge von AfD & Co. hat der Verlag Adornos Bedenken beiseite geschoben, die Aufnahme abschreiben lassen und sendet die zeitlose antifaschistische Flaschenpost in die Welt.
Seine wichtigste These: Die Voraussetzungen rechtsradikaler Bewegungen, die "Konzentrationstendenz des Kapitals", die Vernichtung mittelständischer Betriebe zugunsten global agierender Konzerne, die immer weiter auseinander driftende Schere zwischen Arm und Reich, bestehen nach wie vor – was sich damals in der Rezession von 1966/67 zeigte – und scheint in der jetzigen Finanzkrise wieder evident.
Dies führt zur Deklarierung von Schichten, die ihrem subjektiven Klassenbewusstsein nach bürgerlich sind, ihren sozialen Status bewahren möchten, sich in ihrer Abstiegsangst politisch radikalisieren und anfällig werden für ideologische Manipulationen, für rassistische und antisemitische Vorurteile. Sie schieben die Schuld an ihrer Deklassierung "nicht etwa auf die Apparatur, die das bewirkt" hat, also auf den Kapitalismus, so Adorno, sondern auf diejenigen, die dem System kritisch gegenüberstehen.
Schuldige der Misere
Deshalb hassen sie den Sozialismus, glauben an eine jüdisch-marxistische Weltverschwörung, verrühren Antisemitismus und Antimarxismus zu einem gefährlichen Gebräu und laufen abstrusen Verschwörungstheorien hinterher. Die deklassierten Gruppen haben im "Zeitalter der Automatisierung" Angst vor dem "Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit" - heute fürchten sie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Sie suchen einfache Lösungen für ihre Misere, Schuldige, an denen sie ihre Wut auslassen kann. Sie wollen an die Parolen und Phrasen der rechtsextremen Politiker glauben, die keine Theorie und kein Konzept haben, sondern deren Propaganda die Sache selbst ist und die "Substanz der Politik" ausmacht.
Die Rechtsradikalen hassen die Demokratie, geben sich aber als "wahre Demokraten" und beschimpfen die anderen als "antidemokratisch". Sie ahnen, dass sie einem "Wahnsystem" verfallen sind. Ihr Nationalismus hat etwas Schräges und "Angedrehtes", wie es Adorno formuliert. Ihren Überzeugungen wohnt, weil sie der objektiven Realität widersprechen, etwas "Dämonisches" und "Zerstörerisches" inne. Sie haben den "unbewussten Wunsch nach Unheil, nach Katastrophe", wollen, wenn sie schon ihre eigene soziale Situation nicht verbessern können, "den Untergang der eigenen Gruppe", vielleicht sogar "den Untergang des Ganzen".
Aktiv wegen gegen Faschismus
Dem zu begegnen, ist schwierig. Wer die eigene narzisstische Kränkung in einem grotesken Verfolgungswahn auslebt und das Ende der Demokratie herbei sehnt, ist gegen Argumente immun. Aber wir sollten, meint Adorno, den Rechtsextremismus nicht als "Naturkatastrophe" betrachten und kein "zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit" einnehmen, sondern aktiv werden, uns einmischen, mit der "durchschlagenden Kraft der Vernunft" der wahnhaften und zerstörerischen Propaganda entgegentreten.
Demokratie vollenden, die sozialen Verwerfungen mindern. Nur so, meint Adorno, ist der rechtsextreme Sumpf auszutrocknen. Was zu tun ist, liegt also auf der Hand.