"Die Kritik von Marx an der Religion seiner Zeit war berechtigt"
Der Sozialethiker und Altkatholik Franz Segbers findet bei Marx die besten Analysen zu heutigen Verhältnissen. Und auch der Papst benutze marxistische Begriffe, wenn er vom Fetischismus des Geldes spreche.
Anne Françoise Weber: "Religion ist Opium des Volkes." Der Mann, der diesen Satz geschrieben hat, wurde am 5. Mai vor 200 Jahren geboren – Sie wissen schon, es ist Karl Marx. Er war Enkel eines Rabbiners, er wurde im Alter von sechs Jahren getauft, und er ist auch für seine Religionskritik bekannt. Seine Nachfolger, die Marxisten, haben ihren Kampf für die klassenlose Gesellschaft oft mit einem militanten Atheismus kombiniert. Und doch gibt es bekennende Christen, sogar Theologieprofessoren, die sich positiv auf Karl Marx beziehen. Einer davon ist Franz Segbers. Er ist Professor für Sozialethik an der Universität Marburg und Pfarrer der altkatholischen Kirche. Zusammen mit Michael Ramminger hat er ein Buch herausgegeben, in dessen Titel ein Zitat von Karl Marx und eins aus dem Magnifikat der Maria im Lukasevangelium kombiniert wird. Das gibt dann: "Alle Verhältnisse umzuwerfen … und die Mächtigen vom Thron zu stürzen." Und der Untertitel lautet: "Das gemeinsame Erbe von Christen und Marx". Ich habe vor der Sendung mit Franz Segbers gesprochen und ihn zunächst gefragt: Was ist denn dieses gemeinsame Erbe von Christen und Marx?
Franz Segbers: Ich glaube, dass dieses Mischzitat, das einerseits von Karl Marx genommen ist, mit dem kategorischen Imperativ… Und den Imperativ muss man ganz zitieren, um zu verstehen, worum es geht, da heißt es nämlich: "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Dieses Zitat haben wir zusammengezogen mit einem Teil des Magnifikats, nämlich die Mächtigen vom Thron zu stürzen. Im Magnifikat besingt Maria, die schwanger ist mit Jesus, einen Gott der Bibel, der in der Tat die Mächtigen vom Thron stürzt, dafür sorgt, dass die Hungrigen gesättigt werden und die Reichen leer ausgehen. Da merkt man, an dieser Verknüpfung dieser beiden Zitatteile zu einem gemeinsamen Mischzitat: Es gibt ein gemeinsames Erbe, denen Christen und Marx verpflichtet sind. Und das ist ein Erbe des Humanismus, ein Humanismus der Praxis, ein Humanismus, der dafür sorgt, dass die Armen zu ihrem Recht kommen.
Unterschiedliche Wege, den Armen Recht zu verschaffen
Weber: Aber die Wege, auf denen man dafür sorgt, dass die Armen zu ihrem Recht kommen, die sind doch ziemlich unterschiedlich, oder? Beim Christentum spielt so etwas wie Barmherzigkeit, Feindesliebe eine große Rolle, bei Marx klingt das alles ziemlich kämpferisch, es geht um eine Diktatur des Proletariats, um Revolution. Wie bekommt man das zusammen, oder ist nur die Ausgangsanalyse die gleiche?
Segbers: Die Ausgangsanalyse ist die gleiche, und die Folgerungen sind wohl auch die gleichen, nur die Wege mögen sich in der Geschichte getrennt haben. Aber wir haben im Christentum ja auch den schönen Satz: Christus Jesus hat das Evangelium des Reiches Gottes verkündet, und was gekommen ist, ist die Kirche. Und diese Blamage guter Ideen musste Marx mit seinen eigenen Ideen auch sehen. Er hat es nicht mehr erlebt – Adorno hat davon gesprochen und hat gesagt, die Rezeption von Marx war seine Bestattung. Es waren Grabschänder, Totengräber am Werk, und das, was wir heute Marxismus nennen, ist etwas, das eigentlich erst entstanden ist nach Marx selber. Also es gibt eine Rezeption von Marx, die nicht einfach identisch ist mit dem, was Marx gewollt hat. Deswegen ist es gut, zurückzugehen auf Marx selber, und ich glaube auch, die Geschichte des realen Sozialismus in Osteuropa oder auch weltweit sind zusätzlicher Anlass zurückzugehen, genauer nachzufragen - und der 200. Geburtstag von Karl Marx ist dafür sicherlich eine gute Gelegenheit.
Weber: Aber es gibt nun auch Theologen, die Marx' Werke selbst ganz anders lesen. Ich habe einen Text gelesen von Wolf Krötke, emeritierter Professor für systematische Theologie der Humboldt-Universität Berlin, und der schreibt: "Marx' Werk ist voll von Verächtlichmachung einer christlich-sozialen Weltveränderung", und er wollte "mit seiner Theorie Menschen, die an Gott glauben, unbarmherzig aus der Weltgeschichte hinauskatapultieren". Was entgegen Sie da?
Segbers: Ich würde ihm widersprechen. Die Kritik von Marx an der Religion seiner Zeit war ja nur zu berechtigt. Also er hat eine Religion, eine christliche Religion erlebt in Deutschland, genauer gesagt sogar den Protestantismus hauptsächlich, der gemeine Sache mit Preußen gemacht hat, Thron-und-Altar-Ehe, und nicht nur Thron-und-Altar-Ehe, sondern genauer eine Kirche, die 1848 auch die erste Revolution von Arbeitern, von Handwerkern, aber auch von bürgerlichen Menschen für mehr Freiheit, für demokratische Rechte, für die Emanzipation gekämpft hat. Und die Kirche hat diesen Kampf gegen die Revolution gutgeheißen, unterstützt - sie hat gesagt: Revolution ist Sünde. Und dass sich Marx gegen eine solche Position gewandt hat, das war ja nur zu berechtigt, wie wir jetzt aus dem geschichtlichen Rückblick sagen können. Nein, das Christentum ist keine Religion, die Menschen ruhigstellen will angesichts unbarmherziger Verhältnisse, sondern die Religion des Christentums ist eine Religion, die aus Barmherzigkeit über elende Verhältnisse, unter denen Menschen leiden, anstiften will, für mehr Gerechtigkeit und Recht der Menschen zu sorgen.
Eine einzigartige Befreiungskirche auf den Philippinen
Weber: Hier ziemlich gut bekannt ist die lateinamerikanische Befreiungstheologie, die sich ja stark von Marx hat inspirieren lassen. Sie schreiben in dem genannten Buch einen Artikel über einen philippinische Befreiungskirche, die viel früher entstanden ist. Wie kam es dazu und was ist aus dieser Kirche mittlerweile geworden?
Segbers: Ja, das ist sehr spannend, das ist die Iglesia Filipina Independiente, die unabhängige philippinische Kirche. Es ist mittlerweile die größte Kirche Asiens, die im ökumenischen Rat der Kirchen Mitglied ist. Diese Kirche ist entstanden aus einer Revolution um die Jahrhundertwende, und sie wurde gegründet auf dem ersten Gewerkschaftskongress, und auf diesem ersten Gewerkschaftskongress, als diese Kirche ausgerufen wurde, wurden auch die Schriften von Karl Marx sozusagen zur Grundlagenliteratur dieser Gewerkschaft erklärt. Das heißt, wir haben den kirchengeschichtlich einmaligen Zusammenhang, dass aus den Kämpfen der Menschen um Freiheit, um Würde, um Unabhängigkeit von einer Kolonialmacht eine Kirche gegründet wurde, und zwar in demselben Akt, in dem auch eine Gewerkschaft gegründet worden ist, und dass in diesem Kontext zugleich man sich bezogen hat auf Karl Marx.
Derjenige, der die Kirche ausgerufen hat, Isabelo de los Reyes, kam aus der Verbannung in Spanien zurück und hatte während der Verbannung in Europa, in Spanien, Karl Marx und die Bücher von Karl Marx kennengelernt, und er hat diesen Impuls aufgenommen und hat mit diesem Impuls eine Befreiungskirche gegründet. Wenn man so will, ist das entstanden, was 70 Jahre später dann auch in Lateinamerika entstanden ist. Aus den Kämpfen der Menschen heraus ist eine Kirche entstanden, die sich auch Marx angeeignet hat. Und das Spannende daran ist: Während wir in Europa die Rezeptionen von Marx dadurch verstellt haben, dass wir nur seine Religionskritik gelesen und wahrgenommen haben innerhalb der Kirchen, haben die Völker der Dritten Welt und auch in diesem Fall auf den Philippinen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Marx nicht als Religionskritiker gelesen, sondern sie haben ihn gelesen als jemanden, der ihnen hilft, zu ihrer eigenen Freiheit zu kommen.
Wunsch nach Freiheit brachte auch den Bruch mit Rom
Weber: Und die haben die Freiheit dann auch so weit getrieben, dass sie sich von Rom losgesagt haben. Das haben ja die lateinamerikanischen Befreiungstheologen nie getan, umgekehrt hat sich Rom vielleicht von ihnen losgesagt. Aber da haben die Filipinos einen Widerspruch gesehen, sich dieser Hierarchie von Rom zu unterwerfen, wenn sie befreiungstheologisch mit Basisgemeinden arbeiten, oder was hat da zum Bruch geführt?
Segbers: Ja, der Bruch bestand darin, dass die Kirche auf den Philippinen eine Kolonialkirche war, sie stand auf der Seite der Kolonialmacht. Das hat dazu geführt, dass einheimische philippinische Priester nicht einmal Pfarrer, geschweige denn Bischöfe werden können. 400 Jahre lang wurden die Filipinos politisch als Kolonialmacht behandelt und kirchlich als Gläubige und als Mitglieder der Kirche, auch wurden sie beherrscht von einer Kolonialkirche. Sie haben sich befreit um die Jahrhundertwende vom 19. und 20. Jahrhundert, und in diesem Befreiungsprozess haben zahlreiche philippinische Priester diesen Prozess der Befreiung, der Revolution unterstützt.
Und nachdem man sich befreit hatte von den Spaniern und die Amerikaner dieses Land dann erneut übernommen hatten und die erneute Kolonialmacht geworden sind, hat die römisch-katholische Kirche die neue Kolonialmacht unterstützt, hat sich auf die Seite der Kolonialmacht gestellt und damit abermals gegen die Befreiung der Menschen votiert. Und in dieser Konstellation haben die Filipinos, ein großer Teil, keinen anderen Ausweg gesehen, als eine eigene Kirche zu gründen und dies zu tun im Verein mit der Gründung einer Gewerkschaft, also eines politischen Befreiungsprozesses und auch eines Prozesses, in dem man in einer entkolonialisierten Weise Christ sein und Kirche sein wollte - und das ist, glaube ich, schon ein theologisch und auch politisch beachtlicher Vorgang.
Marx‘ Theorie hilft bei der Analyse der heutigen Verhältnisse
Weber: In Ihrem Buch fordern Sie eine neue Allianz von Christen und Marxisten. Gibt es da Anzeichen dafür, dass das wirklich passiert? Das klingt alles so ein bisschen für mich nach 70er Jahren ehrlich gesagt. Ich meine, Ihr Buch ist jetzt bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen, also parteinahe Stiftung zu der Linken, ist das eine neue Allianz, wenn Theologieprofessoren bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlichen können, oder wo sehen Sie da eine Allianz und in welche Richtung kann die gehen?
Segbers: Wir hatten in den 60er und 70er Jahren innerhalb der Kirchen in Europa eine Phase, in der es einen Dialog gegeben hatte mit Marxisten und auch mit sozialistischen Staaten und mit Philosophen aus den sozialistischen Staaten, einen Dialog zwischen Christen und Marxisten, aber die Weltverhältnisse haben sich jetzt verändert. Wir haben nach dem Scheitern des sogenannten real existierenden Sozialismus eine sehr prekäre Weltsituation, wir wissen, dass der Neoliberalismus gescheitert ist und millionenfach Elend hervorruft, ein Elend, das sozusagen mit den Flüchtlingen an unsere Türen in Europa klopft, und hier müssen wir eine neue Antwort finden. Ich bin in der Tat zutiefst davon überzeugt, dass uns der Rückbezug auf die klaren Analysen, die Marx über den Kapitalismus formuliert hat, und auch seine praktische Kritik, nämlich welche Praxis daraus zu folgen hat, auch heute helfen kann. Das ist nicht 70er Jahre, sondern das ist eine Antwort auf die Verhältnisse im Jahr 2018, in dem wir uns befinden.
Ich habe eine Gastprofessur auf den Philippinen, ich kenne dort die Verhältnisse. Was Marx 1848 und in den folgenden Jahren beschrieben und gesagt hat, ist sozusagen jetzt zur Gestalt gekommen, nämlich ein globaler Kapitalismus, der so funktioniert, dass die Reichen weltweit die Ressourcen dieser Erde und die Arbeit der Menschen ausplündern. Wir haben eine unglaubliche Konzentration von Reichtum und Vermögen in den Händen weniger Menschen auf Kosten von Millionen, die Marx selber in diesem Sinne gar nicht für möglich gehalten hat. Wir müssen in einer solchen Situation fragen, wer bietet die beste Analyse an, um diese Verhältnisse auf den Begriff zu bringen, und ich glaube, dabei können wir als Christen und müssen wir auch als Christen uns anschauen, was Marx gesagt hat, weil er wie kein anderer ein Theoretiker solcher Verhältnisse ist.
Der Papst übernimmt zentrale Begriffe von Marx
Weber: Aber wie ist die Resonanz von marxistischer Seite? Sagt man da: Ja, gerne, wir wollen uns zusammentun, wir brauchen alle Kräfte? Oder sagt man da: Ach, also mit der Kirche wollen wir bis heute nichts zusammenarbeiten, Marx hat gute Gründe dagegen vorgebracht, und das gilt auch für uns heute, selbst wenn die Kirche eine andere ist als die, von der er damals geschrieben hat.
Segbers: Historisch haben wir eine große Last. Wir haben die Last, dass wir als Christen bekennen müssen, dass die Kirchen seit 150 Jahren nicht den Kampf der Arbeiter, der Gewerkschaften, der Menschen um ihre Befreiung gestützt haben, sondern eher aufseiten der Mächtigen sich befunden hat. Jetzt ändert sich da einiges. Wir spüren ganz deutlich, auch in Deutschland in der Flüchtlingsfrage, dass die Kirche zu einer Einspruchsmacht geworden ist, die sich entschieden auf die Seite der Opfer dieses weltweit gescheiterten Neoliberalismus stellt, Menschen, die als Flüchtlinge dann zu uns kommen und hier Zuflucht suchen. Und ich glaube auch, dass wir in der Dritten Welt, in Lateinamerika, aber auch auf den Philippinen, worüber ich vorhin gesprochen habe, die Erfahrung machen können, es gibt sozusagen zwei Arten von Religion und zwei Arten von Kirchen: die eine, die auf der Seite der Mächtigen steht, und die andere, die auf der Seite der Armen steht.
Dabei darf man nicht vergessen, dass weltweit gesehen die christliche Religion zu einer Religion der Armen geworden ist. Die Mehrheit der Christen sind arme Menschen, arm gemachte Menschen im globalen Süden, und wir in Europa haben immer noch einen eurozentrischen Blick auf das Christentum und übersehen dabei, wie sich die Größenverhältnisse längst verändert haben. Und ein Ausdruck dieser Verschiebung ist beim jetzigen Papst zu sehen, Papst Franziskus, der so etwas wie die Stimme der armen Christen, aber nicht nur der Christen darstellt.
Interessant ist ja auch dabei, dass Papst Franziskus derjenige ist, der als Erster zentrale Begriffe der Kapitalismuskritik von Marx aufgenommen hat. Er spricht davon, dass wir in einer Zeit leben, in dem es einen Fetischismus des Geldes gibt, und Fetischismus ist der zentrale Begriff der Kapitalismuskritik bei Marx. Wir haben es in einer Zeit, die so stolz auf ihre Säkularisierung ist, im Grunde genommen damit zu tun, dass neue Götter entstanden sind, nämlich eine Religion des Kapitalismus. Und diese Religion des Kapitalismus zu entzaubern, das war das Anliegen von Marx und es ist auch das Anliegen, das die Kirchen haben. Es gibt sozusagen diese Götzen, die Macht herstellen nicht nur im Himmel – das ist die alte Religionskritik –, sondern Marx sagt auch, es gibt himmlische und irdische Mächte, und diese irdischen Mächte, die können wir sehen, und gegen sie ist anzugehen, weil mit diesen irdischen Mächten die Freiheit der Menschen unterdrückt wird und sie zu ausgebeuteten, erniedrigten, geknechteten, verlassenen und verächtlichen Wesen werden, wie Marx es formuliert hat.
Weber: Also vielleicht doch nicht nur ein gemeinsames Erbe, sondern auch eine gemeinsame Zukunft für Christen und Marx? Vielen Dank, Franz Segbers, Professor für Sozialethik an der Universität Marburg und zusammen mit Michael Ramminger Herausgeber des Buchs "Alle Verhältnisse umzuwerfen … und die Mächtigen vom Thron zu stürzen. Das gemeinsame Erbe von Christen und Marx", erschienen im VSA-Verlag, 245 Seiten, 16,80 Euro.
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