"Spiritualität ist nicht nur im religiösen Kontext möglich"
Der katholische Philosoph Eberhard Tiefensee beobachtet eine Zunahme atheistischer Spiritualität. Auch humanistische Hospize sollten deshalb die spirituellen Bedürfnisse von Menschen ohne Religion berücksichtigen.
Anne Françoise Weber:Jetzt wollen wir auf eine Form der Spiritualität schauen, die gar nicht mehr von einer Religion herkommt, sondern sich bewusst atheistisch nennt. Wie funktioniert das, eine Spiritualität ohne Gottesbezug? Und weil es ja eben für manche Menschen funktioniert – was bedeutet das dann zum Beispiel für die christliche Theologie? Mit diesen Fragen hat sich Eberhard Tiefensee beschäftigt, und er hat sie auch zum Thema seiner Abschiedsvorlesung an der Universität Erfurt gemacht. Dort wurde der studierte Philosoph, Theologe und geweihte Priester Ende Juni nach 21 Jahren als Professor für Philosophie an der katholisch-theologischen Fakultät in den Ruhestand verabschiedet. Ich habe vor der Sendung mit Eberhard Tiefensee gesprochen und ich habe ihn zunächst gefragt, wie er denn atheistische Spiritualität definiert – wo doch schon der Begriff der Spiritualität an sich so schwammig ist.
Eberhard Tiefensee: Sie sprechen das entscheidende Problem an, dass man Spiritualität eigentlich ganz schwer nur definieren kann, weil fast jede und jeder etwas anderes darunter versteht. Aber auf jeden Fall sollte man sie nicht so definieren, dass sie nur im religiösen Kontext möglich ist, denn Spiritualität ist eigentlich schon immer auch in gewisser Opposition zu jeder Art von Religion. Das hat sie auch wahrscheinlich mit den Mystikern gemeinsam. Und es gibt offensichtlich auch eine Spiritualität, die sich unabhängig vom Gottesglauben entwickelt. Und wenn wir jetzt hier von atheistischer Spiritualität sprechen, dann meine ich Menschen, die spirituelle Erlebnisse haben, aber sich dezidiert auch danach noch als Atheisten verstehen und dieses Erlebnis versuchen, dann eben anders einzuordnen.
Weber: Und wie sehen solche Erlebnisse aus?
Tiefensee: Es gibt relativ wenig Berichte, zumindest bin ich auf wenig Berichte gestoßen, die meistens das schildern, was Romain Rolland mal so ozeanisches Gefühl genannt hat. Also überfallartige Erlebnisse einer großen Harmonie, meistens mit dem Universum, ein Verlust des Selbst in dieser Zeit. Das alles eigentlich ohne Angsterfahrung, die sich eigentlich da einstellen müsste, sondern eher ein Gefühl, das so lange anhält, dass noch Jahre später – die Berichte sind oft Jahre später geschrieben – noch auf den Tag genau gesagt werden kann, wann das gewesen ist und wie das abgelaufen ist. Und dann geht also bei diesen Berichten oft eine lange Phase der Interpretation los, man versucht das irgendwie einzuordnen, weil es oft Menschen trifft, die eigentlich nicht irgendwie in die Esoterik oder in die Mystik hineingeraten wollen.
Manche Atheisten fürchten das Irrationale der Spiritualität
Weber: Und kann man sagen, das ist ein Trend, der vielleicht auch damit zu tun hat, dass verfasste Religion heutzutage nicht mehr so wahnsinnig gut angesehen ist, Spiritualität aber in aller Munde und viele Leute auf der Suche nach Spiritualität sind, sodass man auch von atheistischer Seite sagt, das können wir auch für uns einfordern, wir brauchen da keinen Gott dazu, um trotzdem Spiritualität zu erleben?
Tiefensee: Der Umgang mit diesem Phänomen ist, glaube ich, ambivalent, das heißt es wird teils positiv, teils negativ bewertet. Positiv natürlich von Atheisten, die tatsächlich sagen, das haben wir auch und wir sind von daher nicht auf Religion angewiesen, beziehungsweise die sogar der Religion den Vorwurf machen, dass sie das falsch interpretiert, was da erlebt wird. Und von der anderen Seite eine große Sorge, dass über dieses Thema Spiritualität plötzlich in den aufgeklärten Atheismus wieder etwas Irrationales, nicht Erklärliches, ja sogar Religiöses einbricht, und die Religionen Spiritualität als Umarmungsstrategie anwenden, um also auch die Atheisten einzusammeln. Von daher gibt es in solchen Kreisen, die das diskutieren, auch einen erheblichen Widerstand gegenüber diesem Phänomen.
Weber: Aber Sie sagen auch, es sind nicht nur individuelle Erfahrungen, sondern das sind im Grunde auch institutionelle Gegebenheiten, die Atheisten dazu führen, über Spiritualität nachzudenken – zum Beispiel die Tatsache, dass man entdeckt hat, bei der Palliativmedizin ist es eben auch wichtig, auf spirituelle Bedürfnisse der sterbenden oder todkranken Menschen einzugehen.
Tiefensee: Genau, das ist das Phänomen spiritual care. Da gibt es sogar inzwischen einen Lehrstuhl in München an der medizinischen Fakultät, der das lehrt. Es ist also ganz klar, dass es zur Kosten-Nutzen-Erwägung einer medizinischen Einrichtung schon gehören muss, dass sie auch spirituelle Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten abdecken sollte, um eben den Heilungsprozess, falls er möglich ist, möglichst kostengünstig eben zu gestalten. Von der Weltgesundheitsorganisation wird im palliativen Bereich sogar spirituelle Begleitung als zwingend eingefordert. Man könnte es so interpretieren, ich bin jetzt da kein Fachmann, dass also eine Einrichtung ihre Akkreditierung verliert, wenn sie das nicht anbietet. Und das ist natürlich besonders für zum Beispiel Hospize, die von humanistischen Verbänden betrieben werden und die ausdrücklich religionsfrei bleiben wollen, ein Problem, wie sie jetzt mit Spiritualität in diesem Rahmen umgehen sollen.
Patienten brauchen mehr als rationale Welterklärung
Weber: Im Grunde kann man sich dann vorstellen, dass es irgendwann Ausbildungen zu spirituellen Begleitern geben wird ohne religiösen Hintergrund, oder?
Tiefensee: Das gibt es wahrscheinlich sogar schon, da bin ich jetzt wenig informiert darüber. Aber auf jeden Fall ist es so, dass also diejenigen, die sich in einem bewusst religionsfreien und atheistischen Kontext bewegen, sich Gedanken darüber machen müssen, was sie jetzt unter Spiritualität verstehen, wenn sie das für ihre Klientel auch entsprechend anbieten müssen. Es scheint also auch von Seiten der Patienten da ein Bedürfnis da zu sein, das durch eine rein rationale Welterklärung zum Beispiel nicht abgedeckt wird. Da muss noch anderes angeboten werden. Und ich könnte mir schon vorstellen, dass da intensive Diskussionsprozesse im Gang sind, ein bisschen bekommt man das aus der Literatur mit, was denn jetzt Spiritualität in dem Zusammenhang sein sollte.
Weber: Sie haben schon gesagt, Atheisten wehren sich natürlich dagegen, von den Religionen umarmt zu werden. Es wäre ja auch gemein zu sagen: Ätsch, jetzt habt ihr doch festgestellt, es gibt etwas Größeres, ihr nennt es nur noch nicht Gott, aber da kommt ihr auch noch hin. Trotzdem ist es ja interessant wie Christen und Atheisten in einen Dialog kommen können über Spiritualität; eben sei sie Gott nah oder Gott fern oder wie auch immer man das definieren will.
Tiefensee: Ich glaube, hier haben wir das große Problem, dass hier eine Sprachlosigkeit herrscht, die ganz schwer zu überwinden ist. Mir ist jetzt im Nachgang dieser Abschiedsvorlesung, die Sie einleitend genannt haben, schon mitgeteilt worden von Leuten, die sagen, ja, man kann darüber ganz schwer reden. Das kommt wahrscheinlich häufiger vor, als man denkt, aber wir haben in unserer Kultur kaum Artikulationsfähigkeiten entwickelt, sich darüber auszutauschen. Immer wieder die Sorge, man wird für irrational, verrückt erklärt, [das sei] Esoterikergeschwafel und so weiter. Von daher ist es schwer, darüber wirklich ins Gespräch zu kommen, denn diese Erlebnisse, das ist ganz sicher, die gehen wirklich in die Herzmitte der Existenz, und deswegen findet man wahrscheinlich auch relativ wenig Berichte darüber.
Viele Atheisten in Ostdeutschland bezeichnen sich als spirituell
Weber: Aber Sie als Priester, als Theologe und als Philosoph finden es eben doch spannend, sich damit auseinanderzusetzen. Warum?
Tiefensee: Ich finde es deshalb spannend, weil ich überhaupt nicht vermutet habe, dass ein so hoher Prozentsatz von Atheisten sich als spirituell oder sogar religiös bezeichnet, wie das also statistische Untersuchungen zeigen. Die Datenbasis mag da etwas schwach sein, aber es sind alleine in Ostdeutschland über 40 Prozent der deklarierten Atheisten – also die sich selbst als Atheisten deklarieren – , die behaupten sie wären gleichzeitig spirituell oder sogar religiös. Und das ist natürlich für einen Theologen und jemanden, der sich um Begriffsklärungen kümmert eine enorme Herausforderung, wie das zusammengehen soll.
Weber: Und was kann die Theologie tun, um da mehr in den Dialog zu kommen?
Tiefensee: Die Theologie muss selber ihre spirituellen Wurzeln entdecken oder wiederentdecken. Wir haben besonders hier in Deutschland, die wir ja sehr stark auch unter dem Wissenschaftsmodell, das aus der Aufklärung kommt, stehen, ein sehr rationalistisches Verständnis von Theologie, das immer in der Gefahr ist, die Erlebnis- und Erfahrungsbasis zu verlieren. Es gibt ja sogar Forderungen, die meinen, Theologie ist eigentlich nur eine Art von Religionswissenschaft, also wo man sozusagen von außen auf das Ganze drauf schaut. Das funktioniert nicht. Und die Tatsache, das sich hier im dezidiert atheistischen Raum solche Erlebnisse zeigen und dann auch reflektiert werden, ist eigentlich eine Herausforderung auch an die Theologie, da ihre eigene Erfahrungsbasis noch mal deutlich ins Wort zu heben. Jetzt muss man aber sofort dazusagen: ohne dass man jetzt also in eine Richtung gerät, die sehr stark auf Herzenserlebnisse und so weiter aufbaut und das teilweise sehr unreflektiert tut – Theologie muss Wissenschaft bleiben.
Weber: Vielen Dank, Eberhard Tiefensee, Professor emeritus für Philosophie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Erfurt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.