Theologie und Behinderung
Wer Theologe oder Pfarrer wird bzw. Theologin oder Pfarrerin, für den stellen sich Fragen nach dem Glauben und dem Auftrag der Verkündigung lebenslang – ganz besonders, wenn sich das Leben durch eine Krankheit komplett verändert. So berichtet Susanne Krahe, selbst betroffen, im Austausch mit zwei Kolleginnen.
"Ich habe damals Theologie studiert und ich wusste das schon mit siebzehn Jahren, aus Interesse, zu wissen, was wir heutzutage über Gott sprechen können, was wir darüber reden können","
sagt die Pfarrerin im Ruhestand, Susanne Bandt.
""Und ich wollte wissen, wie das denn früher war, in der Kirchengeschichte, in biblischen Texten, und wollte wissen und lernen, wie Professoren darüber denken, was Theologen in Büchern schreiben und was ich daraus lernen kann: Das war die Motivation für mich, Theologie zu studieren."
Wir sitzen in Susanne Bandts Wohnzimmer, und überlegen, ob und wie uns die Theologie in unseren Lebensläufen geprägt, geholfen oder enttäuscht hat. Ich selbst hatte mein Studium keineswegs mit einem so klaren, nüchternen Blick für das Fach begonnen, das ich zu meinem Beruf machen wollte. "Wer bin ich, wo ist mein Platz in dieser Welt?" Mit diesen Fragen begab ich mich mit 18 Jahren auf eine noch recht diffuse Sinnsuche. Ich fand dann bald heraus, dass das "Reden von Gott" – wie Theologie übersetzt heißt – nicht unbedingt meine persönlichen Lebensfragen beantwortete. Für viele Theologieanfänger ist diese Ernüchterung enttäuschend. Auch die feministische Theologin Ina Praetorius erlebte ihr Studium als zu steril. In ihrer Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses erinnert sie sich:
"Wir beschwerten uns über Professoren, die niemals »Ich« sagten, sich stattdessen benahmen, als hätte, was sie lehrten, mit ihnen nichts zu tun...schrieben Seminararbeiten, in denen das Wörtchen »Ich« höchstens im allerletzten Abschnitt vorkam. Obwohl es das allererste Wort des Glaubensbekenntnisses ist."
Susanne Bandt erzählt, sie habe den unpersönlichen Stil der Wissenschaft nicht als Mangel empfunden. Vielmehr sei das Studium für sie ein ungebrochener Entwicklungsprozess gewesen, mit stetigem, unerwartet hohem Gewinn an Glaube und Wissen. Mir selbst ging das nicht anders. Ich habe bis zum heutigen Tag das Gefühl, mit der Theologie den genau passenden Kompass für einen holprigen Lebensweg eingesteckt zu haben – auch wenn ich ihn öfter neu ausrichten musste.
Früher sind Susanne Bandt und ich von Theologenkollegen scherzhaft als "die Blinde und die Lahme" bezeichnet worden, wenn wir gemeinsam durch unsere Stadt zogen; sie als Rollstuhllenkerin, ich als diejenige, die ihren Rollstuhl schob.
Wir haben beide tiefe Einschnitte in unsere Lebenspläne verschmerzen müssen. Die ordinierte Pfarrerin erhielt an ihrem dreißigsten Geburtstag die Diagnose "Multiple Sklerose", ich bin mit Dreißig erblindet, als Folge meines Diabetes. Aus einem Pfarramt wurde ich nicht gerissen, aber meine Laufbahn im theologischen Wissenschaftsbetrieb musste ich aufgeben.
Susanne Bandt identifizierte ihr Theologinnen-Dasein immer mit der Arbeit als Pfarrerin. Als ihre körperlichen Kräfte eine Arbeit in der Kirchengemeinde nicht mehr zuließen, tauschte sie sie gegen einen rollstuhlgerechten Arbeitsplatz als Krankenhaus-Seelsorgerin ein. Wenn sie nun mit ihrem rollenden Untersatz in die Krankenzimmer fuhr, begegnete sie den Patienten auf Augenhöhe, statt wie früher vor dem Altar oder oben auf einer Kanzel zu stehen. Das führte manchmal zu einer Solidarisierung, die ihr die Gespräche mit den Patienten erleichterte. Auf der anderen Seite stellte diese neue Rolle ihr Selbstbild als Repräsentantin ihrer Kirche in Frage.
"Eine große Schwelle war ja sicherlich die Situation mit dem Rollstuhl. Weil natürlich, bis zu der Rollstuhlsituation, war scheinbar alles normal wie immer. Aber den Rollstuhl zu fahren und trotzdem Pastorin zu sein, heißt ja auch, so wahrgenommen zu werden, und mein ganzes Lebenskonzept ja irgendwie anders war. Ich war gerne Gemeindepastorin, und hab gerne, ja, auch Gemeindemanagement ja auch gemacht, was man da so tun muss, mit Kindern, mit Jugendlichen, mit alten Leuten, und das war plötzlich alles weg. Und ich war begrenzt auf Krankenhausarbeit, so dass eigentlich mein Selbstbild, von meinem Beruf und meinem Leben, weg war. Ich musste mich neu erfinden, ein neues Selbstbild finden, und ich musste mich fragen: Was hat Gott sich damit gedacht?"
Auch Berufstheologinnen und -theologen stellen die Frage Hiobs und des gekreuzigten Jesus nach dem "Warum?". Gerade sie haben aber auch gelernt, dass diese Frage eigentlich eine Klage ist, die gar keine logische Antwort erwartet. Es geht dabei, wie Ina Praetorius schreibt, um die Annahme des eigenen Leidens, der der Protest in der Regel vorausgeht. Die feministische Theologin muss seit 1997 mit der Diagnose Multiple Sklerose leben. Inzwischen beantwortet sie sich die Frage nach dem Sinn der Erkrankung folgendermaßen:
"Warum eigentlich soll nicht gerade ich dieses Leiden tragen? Wie komme ich auf die Idee, eine andere sei dafür besser geeignet? Warum sollte dieses Leiden, genau meines, nicht einen Sinn haben? Nicht dass jedes Leiden eine tiefere oder höhere Bedeutung hätte, nicht dass ich die für andere herausfinden könnte. Aber es steht mir frei, mein eigenes unverwechselbares Leben anzunehmen. So wie Jesus dem Gang nach Golgatha nicht ausgewichen ist."
Nähme man die "Warum Ich?"-Frage als Frage ernst, müsste sie angesichts der Universalität des Leidens eigentlich umgekehrt werden. Warum sollte ausgerechnet ich verschont bleiben? So ungefähr lautet meine Antwort auf meine Erblindung. Susanne Bandt hat ihren eigenen Weg der Auseinandersetzung gefunden:
"Hat Gott was damit zu tun, dass ich jetzt hier mit dem Rollstuhl sitze und diese blöde Krankheit habe, oder nicht? Und das weiß ich noch genau, das war ungefähr ein bis zwei Jahre, als ich da gehadert habe mit, und dann eines Tages sehr klar wusste: Entweder hat Gott etwas damit zu tun oder der Teufel. Und hab mich dann entschieden, es wird wohl Gott sein und nicht der Teufel. Ja, und seitdem... Das ist wirklich einfach punktuell gewesen, ein, zwei Jahre lang, und seit dem ist das klar. Es ist der Weg, den Gott mit mir geht."
Susanne Bandt und ich stimmen darin überein, dass eine Behinderung zum Aufbau einer neuen Identität zwingt, auch zur Überprüfung des eigenen theologischen Profils oder zur Korrektur des Gottesbildes. Die Vorstellung von einem ausschließlich "lieben" Gott ohne Widersprüche war mir wohl immer schon zu einfach erschienen. Der Verlust meines Augenlichts hat mir mit den Jahren die Dimension von Gottes Unsichtbarkeit besonders nahe gebracht. Diese Dimension schließt aber auch Gottes Unverfügbarkeit und Unberechenbarkeit ein. Seine Ungreifbarkeit hat durchaus frustrierende Seiten. Positiv gesprochen bedeutet sie: Gott ist immer für Überraschungen gut. Was mir noch als Studentin unerträglich vorkam – ein Leben ohne Amt, Würde und akademischen Titel – empfinde ich heute als entlastend. Die biblische und reformatorische Botschaft vom Ja Gottes zu einem Leben jenseits der Leistungsnormen ist von einer bloßen Theorie zur lebbaren Praxis geworden.
"Schon lange bevor klar wurde, dass ich einem Alltag, der im wesentlichen aus Sitzungen, Vorlesungen, Prüfungen und Pflichtlektüre bestand, nicht gewachsen sein würde, hatte ich aber geahnt, dass ich Theologieprofessorin eigentlich nur werden wollte, weil es sich gehört, ein benennbares Karriereziel zu haben."
Das schreibt Ina Praetorius, die sich bewusst gegen die akademische Laufbahn entschieden und das "Zwischen" als den kreativen Raum für ihre Identität entdeckt hat; zwischen behindert und nicht behindert, stark und schwach, Mensch und Mensch, Mensch und Gott. Er eröffnet ihr auch die Freiheit, gegen theologische Konventionen anzugehen, wenn es beispielsweise um Fragen der Christologie geht.
"Als ich am Gründonnerstag 1997 erfuhr, dass die seltsamen Empfindungen in meinen Augen und Beinen von etwas herrührten, das die Ärzte "multiple Sklerose" nennen, regte ich mich Monate lang auf. Es ging mir auch auf die Nerven, dass freundliche Pfarrer mir empfahlen, mich mit Jesus Christus zu trösten. Der habe schließlich auch gelitten und sei dadurch Gott viel näher gekommen als Menschen, die fit durchs Leben ziehen.
Was aber hat ein gesunder junger Mann, der ein paar Stunden lang höllische Qualen erleidet, mit einer einundvierzigjährigen chronisch Kranken gemeinsam, die womöglich Jahrzehnte lang Schmerzen haben, immer schwächer werden, wie eine Betrunkene schwanken, nicht mehr lesen können, in die Hose machen und schließlich im Rollstuhl landen wird? Nichts. Zu behaupten, Jesus habe sich absichtlich foltern lassen, um Gott und mir näher zu sein und für meine Sünden zu büßen, halte ich für abwegig."
Bislang kann Ina Praetorius ohne die großen körperlichen Einschränkungen leben, die für Susanne Bandt – und in vielen Teilen auch für mich - längst Wirklichkeit geworden sind. Der leidende Christus kann auch zur Identifikationsfigur für Menschen werden, die sich in dem Empfinden, von Gott verlassen zu sein, nicht allein fühlen müssen.
"Also mir war klar: Ich muss mir jetzt n Konzept finden für diese Situation. Und das ist ja oft so gewesen in meinem Leben. Dann fallen einem bestimmte Bibelverse oder Bibelerzählungen ein, die dann dran sind, die wichtig sind, und damals war mir dran zum Beispiel der Satz "Das Äußere muss vergehen, und das Innere muss wachsen." Also das war sehr schlagartig wichtig mir geworden, weil ich dachte: Was ist denn eigentlich mein Inneres, das wachsen muss? Und ich kannte gar nichts Inneres bei mir."
Eine Meditationstechnik, die Beschäftigung mit Astrologie und mit dem Enneagramm, aber auch Schweige-Exerzitien und Fortbildungen in dogmatischer Theologie halfen ihr bei der Entdeckung der eigenen Innerlichkeit, die als Gemeinde-Managerin noch kein Thema für sie gewesen war. Einige dieser Wege waren neu und führten die Pfarrerin im Ruhestand über ihr eigenes Fach hinaus, andere dienten der spirituellen Vertiefung. Während Susanne körperlich immer unbeweglicher wurde, suchte sie einen Ausgleich mit der Erforschung geistiger Sphären. Die traditionelle Theologie betrachtet den Menschen nur wenig als Körper; eine Vernachlässigung, die jüngere Theologinnen, gerade auch solche mit Behinderungen, kritisieren . Für Susanne Bandt sind gerade die inneren Dinge vorrangig geworden.
"Körper ist nicht Identität?"
Nein, nein. Körper ist nicht Identität. Finde ich nicht.
Was ist Identität, was macht Identität aus?
Das ist das Gemüt, der Verstand, die Seele, die Schwingungen der Seele, die in einem Netzwerk leben, was vom Heiligen Geist lebendig gehalten wird; ein Netzwerk von Menschen, Freunden, Verstorbenen, Mitarbeitern meines Pflegedienstes, Menschen, die mir helfen, ein lebendiges Leben zu führen."
sagt die Pfarrerin im Ruhestand, Susanne Bandt.
""Und ich wollte wissen, wie das denn früher war, in der Kirchengeschichte, in biblischen Texten, und wollte wissen und lernen, wie Professoren darüber denken, was Theologen in Büchern schreiben und was ich daraus lernen kann: Das war die Motivation für mich, Theologie zu studieren."
Wir sitzen in Susanne Bandts Wohnzimmer, und überlegen, ob und wie uns die Theologie in unseren Lebensläufen geprägt, geholfen oder enttäuscht hat. Ich selbst hatte mein Studium keineswegs mit einem so klaren, nüchternen Blick für das Fach begonnen, das ich zu meinem Beruf machen wollte. "Wer bin ich, wo ist mein Platz in dieser Welt?" Mit diesen Fragen begab ich mich mit 18 Jahren auf eine noch recht diffuse Sinnsuche. Ich fand dann bald heraus, dass das "Reden von Gott" – wie Theologie übersetzt heißt – nicht unbedingt meine persönlichen Lebensfragen beantwortete. Für viele Theologieanfänger ist diese Ernüchterung enttäuschend. Auch die feministische Theologin Ina Praetorius erlebte ihr Studium als zu steril. In ihrer Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses erinnert sie sich:
"Wir beschwerten uns über Professoren, die niemals »Ich« sagten, sich stattdessen benahmen, als hätte, was sie lehrten, mit ihnen nichts zu tun...schrieben Seminararbeiten, in denen das Wörtchen »Ich« höchstens im allerletzten Abschnitt vorkam. Obwohl es das allererste Wort des Glaubensbekenntnisses ist."
Susanne Bandt erzählt, sie habe den unpersönlichen Stil der Wissenschaft nicht als Mangel empfunden. Vielmehr sei das Studium für sie ein ungebrochener Entwicklungsprozess gewesen, mit stetigem, unerwartet hohem Gewinn an Glaube und Wissen. Mir selbst ging das nicht anders. Ich habe bis zum heutigen Tag das Gefühl, mit der Theologie den genau passenden Kompass für einen holprigen Lebensweg eingesteckt zu haben – auch wenn ich ihn öfter neu ausrichten musste.
Früher sind Susanne Bandt und ich von Theologenkollegen scherzhaft als "die Blinde und die Lahme" bezeichnet worden, wenn wir gemeinsam durch unsere Stadt zogen; sie als Rollstuhllenkerin, ich als diejenige, die ihren Rollstuhl schob.
Wir haben beide tiefe Einschnitte in unsere Lebenspläne verschmerzen müssen. Die ordinierte Pfarrerin erhielt an ihrem dreißigsten Geburtstag die Diagnose "Multiple Sklerose", ich bin mit Dreißig erblindet, als Folge meines Diabetes. Aus einem Pfarramt wurde ich nicht gerissen, aber meine Laufbahn im theologischen Wissenschaftsbetrieb musste ich aufgeben.
Susanne Bandt identifizierte ihr Theologinnen-Dasein immer mit der Arbeit als Pfarrerin. Als ihre körperlichen Kräfte eine Arbeit in der Kirchengemeinde nicht mehr zuließen, tauschte sie sie gegen einen rollstuhlgerechten Arbeitsplatz als Krankenhaus-Seelsorgerin ein. Wenn sie nun mit ihrem rollenden Untersatz in die Krankenzimmer fuhr, begegnete sie den Patienten auf Augenhöhe, statt wie früher vor dem Altar oder oben auf einer Kanzel zu stehen. Das führte manchmal zu einer Solidarisierung, die ihr die Gespräche mit den Patienten erleichterte. Auf der anderen Seite stellte diese neue Rolle ihr Selbstbild als Repräsentantin ihrer Kirche in Frage.
"Eine große Schwelle war ja sicherlich die Situation mit dem Rollstuhl. Weil natürlich, bis zu der Rollstuhlsituation, war scheinbar alles normal wie immer. Aber den Rollstuhl zu fahren und trotzdem Pastorin zu sein, heißt ja auch, so wahrgenommen zu werden, und mein ganzes Lebenskonzept ja irgendwie anders war. Ich war gerne Gemeindepastorin, und hab gerne, ja, auch Gemeindemanagement ja auch gemacht, was man da so tun muss, mit Kindern, mit Jugendlichen, mit alten Leuten, und das war plötzlich alles weg. Und ich war begrenzt auf Krankenhausarbeit, so dass eigentlich mein Selbstbild, von meinem Beruf und meinem Leben, weg war. Ich musste mich neu erfinden, ein neues Selbstbild finden, und ich musste mich fragen: Was hat Gott sich damit gedacht?"
Auch Berufstheologinnen und -theologen stellen die Frage Hiobs und des gekreuzigten Jesus nach dem "Warum?". Gerade sie haben aber auch gelernt, dass diese Frage eigentlich eine Klage ist, die gar keine logische Antwort erwartet. Es geht dabei, wie Ina Praetorius schreibt, um die Annahme des eigenen Leidens, der der Protest in der Regel vorausgeht. Die feministische Theologin muss seit 1997 mit der Diagnose Multiple Sklerose leben. Inzwischen beantwortet sie sich die Frage nach dem Sinn der Erkrankung folgendermaßen:
"Warum eigentlich soll nicht gerade ich dieses Leiden tragen? Wie komme ich auf die Idee, eine andere sei dafür besser geeignet? Warum sollte dieses Leiden, genau meines, nicht einen Sinn haben? Nicht dass jedes Leiden eine tiefere oder höhere Bedeutung hätte, nicht dass ich die für andere herausfinden könnte. Aber es steht mir frei, mein eigenes unverwechselbares Leben anzunehmen. So wie Jesus dem Gang nach Golgatha nicht ausgewichen ist."
Nähme man die "Warum Ich?"-Frage als Frage ernst, müsste sie angesichts der Universalität des Leidens eigentlich umgekehrt werden. Warum sollte ausgerechnet ich verschont bleiben? So ungefähr lautet meine Antwort auf meine Erblindung. Susanne Bandt hat ihren eigenen Weg der Auseinandersetzung gefunden:
"Hat Gott was damit zu tun, dass ich jetzt hier mit dem Rollstuhl sitze und diese blöde Krankheit habe, oder nicht? Und das weiß ich noch genau, das war ungefähr ein bis zwei Jahre, als ich da gehadert habe mit, und dann eines Tages sehr klar wusste: Entweder hat Gott etwas damit zu tun oder der Teufel. Und hab mich dann entschieden, es wird wohl Gott sein und nicht der Teufel. Ja, und seitdem... Das ist wirklich einfach punktuell gewesen, ein, zwei Jahre lang, und seit dem ist das klar. Es ist der Weg, den Gott mit mir geht."
Susanne Bandt und ich stimmen darin überein, dass eine Behinderung zum Aufbau einer neuen Identität zwingt, auch zur Überprüfung des eigenen theologischen Profils oder zur Korrektur des Gottesbildes. Die Vorstellung von einem ausschließlich "lieben" Gott ohne Widersprüche war mir wohl immer schon zu einfach erschienen. Der Verlust meines Augenlichts hat mir mit den Jahren die Dimension von Gottes Unsichtbarkeit besonders nahe gebracht. Diese Dimension schließt aber auch Gottes Unverfügbarkeit und Unberechenbarkeit ein. Seine Ungreifbarkeit hat durchaus frustrierende Seiten. Positiv gesprochen bedeutet sie: Gott ist immer für Überraschungen gut. Was mir noch als Studentin unerträglich vorkam – ein Leben ohne Amt, Würde und akademischen Titel – empfinde ich heute als entlastend. Die biblische und reformatorische Botschaft vom Ja Gottes zu einem Leben jenseits der Leistungsnormen ist von einer bloßen Theorie zur lebbaren Praxis geworden.
"Schon lange bevor klar wurde, dass ich einem Alltag, der im wesentlichen aus Sitzungen, Vorlesungen, Prüfungen und Pflichtlektüre bestand, nicht gewachsen sein würde, hatte ich aber geahnt, dass ich Theologieprofessorin eigentlich nur werden wollte, weil es sich gehört, ein benennbares Karriereziel zu haben."
Das schreibt Ina Praetorius, die sich bewusst gegen die akademische Laufbahn entschieden und das "Zwischen" als den kreativen Raum für ihre Identität entdeckt hat; zwischen behindert und nicht behindert, stark und schwach, Mensch und Mensch, Mensch und Gott. Er eröffnet ihr auch die Freiheit, gegen theologische Konventionen anzugehen, wenn es beispielsweise um Fragen der Christologie geht.
"Als ich am Gründonnerstag 1997 erfuhr, dass die seltsamen Empfindungen in meinen Augen und Beinen von etwas herrührten, das die Ärzte "multiple Sklerose" nennen, regte ich mich Monate lang auf. Es ging mir auch auf die Nerven, dass freundliche Pfarrer mir empfahlen, mich mit Jesus Christus zu trösten. Der habe schließlich auch gelitten und sei dadurch Gott viel näher gekommen als Menschen, die fit durchs Leben ziehen.
Was aber hat ein gesunder junger Mann, der ein paar Stunden lang höllische Qualen erleidet, mit einer einundvierzigjährigen chronisch Kranken gemeinsam, die womöglich Jahrzehnte lang Schmerzen haben, immer schwächer werden, wie eine Betrunkene schwanken, nicht mehr lesen können, in die Hose machen und schließlich im Rollstuhl landen wird? Nichts. Zu behaupten, Jesus habe sich absichtlich foltern lassen, um Gott und mir näher zu sein und für meine Sünden zu büßen, halte ich für abwegig."
Bislang kann Ina Praetorius ohne die großen körperlichen Einschränkungen leben, die für Susanne Bandt – und in vielen Teilen auch für mich - längst Wirklichkeit geworden sind. Der leidende Christus kann auch zur Identifikationsfigur für Menschen werden, die sich in dem Empfinden, von Gott verlassen zu sein, nicht allein fühlen müssen.
"Also mir war klar: Ich muss mir jetzt n Konzept finden für diese Situation. Und das ist ja oft so gewesen in meinem Leben. Dann fallen einem bestimmte Bibelverse oder Bibelerzählungen ein, die dann dran sind, die wichtig sind, und damals war mir dran zum Beispiel der Satz "Das Äußere muss vergehen, und das Innere muss wachsen." Also das war sehr schlagartig wichtig mir geworden, weil ich dachte: Was ist denn eigentlich mein Inneres, das wachsen muss? Und ich kannte gar nichts Inneres bei mir."
Eine Meditationstechnik, die Beschäftigung mit Astrologie und mit dem Enneagramm, aber auch Schweige-Exerzitien und Fortbildungen in dogmatischer Theologie halfen ihr bei der Entdeckung der eigenen Innerlichkeit, die als Gemeinde-Managerin noch kein Thema für sie gewesen war. Einige dieser Wege waren neu und führten die Pfarrerin im Ruhestand über ihr eigenes Fach hinaus, andere dienten der spirituellen Vertiefung. Während Susanne körperlich immer unbeweglicher wurde, suchte sie einen Ausgleich mit der Erforschung geistiger Sphären. Die traditionelle Theologie betrachtet den Menschen nur wenig als Körper; eine Vernachlässigung, die jüngere Theologinnen, gerade auch solche mit Behinderungen, kritisieren . Für Susanne Bandt sind gerade die inneren Dinge vorrangig geworden.
"Körper ist nicht Identität?"
Nein, nein. Körper ist nicht Identität. Finde ich nicht.
Was ist Identität, was macht Identität aus?
Das ist das Gemüt, der Verstand, die Seele, die Schwingungen der Seele, die in einem Netzwerk leben, was vom Heiligen Geist lebendig gehalten wird; ein Netzwerk von Menschen, Freunden, Verstorbenen, Mitarbeitern meines Pflegedienstes, Menschen, die mir helfen, ein lebendiges Leben zu führen."
Buchempfehlung
Wie verändert eine Behinderung die eigene Theologie? fragte Susanne Krahe in diesem Beitrag. Ausführlicher geht sie der Frage in ihrer kürzlich erschienenen Autobiographie nach:
Susanne Krahe: Der Geschmack von Blau. Was ich weiß, seit ich nichts mehr sehe.
Verlag Neukirchener Aussaat, Neukirchen-Vluyn 2011
264 Seiten, 16,90 Euro
Weiterführende Literatur:
Praetorius, Ina: Ich glaube an Gott und so weiter...
Eine Auslegung des Glaubensbekenntnisses, 2. Auflage Gütersloh 2011
Praetorius, Ina: INTER-ESSE: Jenseits von stark und schwach. In: Lutz, Gottfried/ Zippert, Veronika (Hrsg.): Grenzen in einem weiten Raum. Theologie und Behinderung. Leipzig 2007
Bollag, E./ Lutz, G.: Körpertheologie. Ein Interview. In: Lutz, G./ Zippert, V. (Hrsg.): Grenzen in einem weiten Raum. Theologie und Behinderung, Leipzig 2007
Susanne Krahe: Der Geschmack von Blau. Was ich weiß, seit ich nichts mehr sehe.
Verlag Neukirchener Aussaat, Neukirchen-Vluyn 2011
264 Seiten, 16,90 Euro
Weiterführende Literatur:
Praetorius, Ina: Ich glaube an Gott und so weiter...
Eine Auslegung des Glaubensbekenntnisses, 2. Auflage Gütersloh 2011
Praetorius, Ina: INTER-ESSE: Jenseits von stark und schwach. In: Lutz, Gottfried/ Zippert, Veronika (Hrsg.): Grenzen in einem weiten Raum. Theologie und Behinderung. Leipzig 2007
Bollag, E./ Lutz, G.: Körpertheologie. Ein Interview. In: Lutz, G./ Zippert, V. (Hrsg.): Grenzen in einem weiten Raum. Theologie und Behinderung, Leipzig 2007