Theologin ohne Heimat in der Kirche
Dorothee Sölle war eine Theologin, welche die These "Gott ist tot" vertrat. Aus der neuzeitlichen Kirchengeschichte ist die evangelische Mystikerin nicht wegzudenken.
"Was hast du getan
Wird der engel mich fragen
In diesem november
habe ich zwei vorurteile korrigiert
das gegen amerikanische e-musik
mit hilfe von samuel barber
und das gegen blumen aus seide
draht und papier
Ich habe mich rühren lassen
im rahmen dessen was vorgesehen ist
für meine klasse
ich habe mich an dem luxus erfreut
den mädchen in hongkong herstellen
unterernährte
die in handarbeit blumen anfertigen
nichts essbares"
Dorothee Sölle (1985): "Was ich eigentlich möchte ist, die Bibel weiterschreiben. Die Bibel ist so gut, dass selbst 2000 Jahre Kirchengeschichte und eine evangelische Kirche, wie wir sie heute haben, sie nicht kaputt bekommt. Die ist so stark. Sie spricht auf jeder Seite von den Armen. Man kann das Buch nicht lesen und darüber wegsehen und nur an den Reichen interessiert, das geht nicht"."
Dorothee Sölle, zu ihren Lebzeiten Vorbild für die einen, für die anderen rotes Tuch. Schriftstellerin und evangelische Theologin ohne Heimat in der Institution Kirche. Eine kleine, zierliche, provokante Frau, deren Sprache ebenso scharf geschliffen wie poetisch sein konnte. Eine Frau, die das Staunen noch nicht verlernt hatte. Eine Frau, die etwas bewegen wollte in der Welt. Die nicht darauf baute, dass ein allmächtiger Gott schon alles richten werde. Erst recht nicht nach den Gräueln von Auschwitz.
Sölle: ""Für mich wichtigstes Thema war die Frage nach der Allmacht Gottes: Wo war Gott in Auschwitz? Warum hat er die Züge nicht angehalten? Wenn er doch alles kann per Knopfdruck? Wenn er da oben sitzt an seinem Schaltbrett und hat eine Milliarde Knöpfe, hätte er es doch machen können. Oder hatte er kein Interesse daran? Ich habe lange gerungen und ich denke, dass es eine falsche Vorstellung ist. Ich hab es auf die Formel gebracht: Gott war sehr klein in dieser Zeit in Deutschland. Er hatte fast keine Freunde und Freundinnen. Und Gott braucht uns."
"Wir haben den längeren atem
wir brauchen die bessere zukunft
zu uns gehören leute mit schlimmeren schmerzen
die opfer des kapitals
bei uns hat schon mal einer brot verteilt
das reichte für alle"
Sölle (1985): "Ich benutze manchmal die beiden Wörter ‚beten‘ und ‚dichten‘ synonym, als sagten sie das Gleiche, so ein Versuch des Selbstausdrucks, auch des ausgedrückten Schmerzes. Es geht mir oft so, wenn ich Meldungen lese in der Zeitung oder in Briefen, die Leute mir schreiben, Meldungen des Entsetzens, etwas Grauenvolles, dann ist es manchmal so, als könnte ich nicht atmen. Und dann hab ich das Bedürfnis, irgendetwas damit zu tun, aber manchmal denke ich auch, ich will es Gott erzählen und deswegen schreib ich es auf, damit er es endlich mal hört."
Fulbert Steffensky: "Das Leiden der Menschen war ihr ein theologisches Anliegen, nicht nur ein politisches Anliegen. In diesem Zusammenhang hat sie gesagt: man kann eigentlich nicht beten, ohne auch politisch zu beten. Man kann nicht Christ sein, ohne auch ein politischer Christ zu sein."
Die einstmals brave Bürgerstochter, die als Kind die Nächte im Luftschutzkeller nur als Abenteuer erlebt hatte, die Klavierspielen konnte und Gesang über alles liebte, die in zwei Ehen vier Kinder gebar und zwölf Jahre lang als Professorin am Union Theological Seminary in New York lehrte, das als Schule der Aufsässigen bekannt war, diese Frau ließ sich tief anrühren von den zahlreichen Schrecken, die Menschen über Menschen bringen. Aber auch von der Freude und der Schönheit des Lebens. Bis zu ihrem Tod hielt Dorothee Sölle fest an der Vision einer besseren Welt, sprach aus, was andere nur im Geheimen denken.
Steffensky: "Sie war eine gegensätzliche Frau. Sie war eine ebenso sanfte Frau, die sonntags in die Kirche gegangen ist, im Kirchenchor gesungen hat, Klavier gespielt hat, die Blumen geliebt hat. Und sie war eine zornige Frau. Und Zorn ist eine Begabung des Herzens. Wer Unrecht sieht und nicht zornig ist, der ist verstümmelt und sie konnte sehr in Rage geraten, ja."
Fast 35 Jahre lang war Dorothee Sölle mit Fulbert Steffensky, einem ehemaligen Benediktinermönch, verheiratet.
Steffensky: "Es ist erstaunlich, wie viele Briefe ich noch bekomme, in denen Menschen sagen, sie seien ihretwegen in der Kirche geblieben oder ihretwegen haben sie ihre Kinder taufen lassen, oder ihretwegen seien sie im Pfarramt geblieben, das ist ganz ungebrochen."
Friederike von Kirchbach: "Es gibt viele, viele Orte, sei es eine Hochzeitsanzeige, wo einem Zeilen von ihr begegnen, oder in Andachten in der Passionszeit, da finden sich immer wieder viele Texte von Dorothee Sölle, die sind eingegangen in unsere Alltagsgeschichten in den Gemeinden. In vielen Gemeinden gehören die mit zur Grundausrüstung an neuzeitlichen Texten. Sie hat ja sehr früh angefangen, richtungsweisende Texte zu schreiben, die bis heute in der Theologiegeschichte eine große, auch verbindende Rolle spielen. Also es traut sich doch heute keiner mehr, die Bedeutung von Dorothee Sölle für die neuzeitliche Kirchengeschichte zu bestreiten."
Friederike von Kirchbach, heute Pröpstin für Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, hatte schon Anfang der 70er-Jahre als Theologin in der DDR Sölles Texte verschlungen:
"Mir wurden als DDR-Theologin Bücher von Dorothee Sölle mit über die Grenze geschmuggelt. Das waren wirklich Kleinodien für mich, also ich hab die wirklich wie einen Schatz gehandelt."
Sölle kämpfte gegen blinden Gehorsam jeder Art, sie wollte Lebendigkeit, Kreativität, Phantasie – wie bei den monatlich stattfindenden "Politischen Nachtgebeten" in Köln, die sie mit initiierte und an denen auch der Schriftsteller Heinrich Böll teilnahm:
Steffensky: "68/69 das war ein Versuch in Köln, gesellschaftliche Zustände, gesellschaftliche Missstände vor der eigenen Tradition in Gottesdiensten zu bedenken, die politischen Nachtgebete. Die wurden sehr, sehr besucht, wurden auch nachgeahmt in vielen Städten. Die Texte dieser Nachtgebete wurden – wir haben, glaube ich, jedes Mal 2000 verschickt ohne Büro - und sie wurden von den Kirchenleitungen abgelehnt. Das hat uns in harte Auseinandersetzungen geführt."
Die Dorothee Sölle nie gescheut hat. Sie polarisierte die christliche Kirche. Dafür wurde sie abgestraft. Nach ihrer Habilitation im Jahr 1971 hat sie nie eine ordentliche Professur an einer deutschen theologischen Fakultät bekommen. Und nie eine feste Stelle bei der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie blieb die Mahnerin draußen vor der Tür.
Steffensky: "Sie war ein nicht durch kleine Münzen zu beruhigender Typ. Und das ist ein Teil ihrer Schönheit gewesen und ein Teil ihrer Würde auch."
Sölle forderte konsequent Abrüstung, weltweit, und ihr Land, Deutschland, sollte damit beginnen. Unilateral. Gemeinsam mit Heinrich Böll nahm sie an Sitzblockaden vor dem Pershing II-Raketendepot in Mutlangen teil und später mit dem Theologen Helmut Gollwitzer vor dem US-Giftgas-Depot in Fischbach. Wurde verurteilt wegen versuchter Nötigung. Immer gab es dieses Stück Anarchismus in ihr, die radikale Verbrüderung mit den Nicht-Konformen und den Verlieren der Gesellschaft.
"Liebe Schwestern und Brüder,
ich spreche zu Ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Erde kommt; einem Land mit einer blutigen, nach Gas stinkenden Geschichte, die einige von uns Deutschen noch nicht vergessen konnten; einem Land, das heute, 1983, die größte Dichte von Atomwaffen in der Welt bereit hält."
Mit diesen Worten begann Dorothee Sölle ihre Rede vor dem Weltkirchenrat in Vancouver.
Wartenberg-Potter: "Ich habe mit ihr da auch mal gestritten, als sie in Vancouver gesagt hat: meine Kirche, die ich manchmal wie das Grab Christi empfinde… Dann hab ich gesagt: Dorothee, das solltest du nicht sagen, das ist auch nicht gerecht, so hart vor aller Welt unsere eigene Kirche in dieser Form so beschreiben und da hat sie es dann abgemildert und gesagt: die Kirchen, die mir manchmal wie das Grab Christi vorkommen, also auf alle bezogen."
Bärbel Wartenberg-Potter, langjährige Freundin von Dorothee Sölle und bis Herbst 2008 Bischöfin von Lübeck, kann die Radikalität nicht teilen. Doch Sölle hielt es für ihre Pflicht, auszusprechen, was sie für die Wahrheit hielt. Auch wenn die nicht willkommen war. Ablehnung konnte sie ertragen. Schwerer war es, mit der eigenen Verzagtheit fertig zu werden.
Steffensky: "Der Mut floss ihr nicht einfach so zu. Sie hat selbst auch sehr stark gegen Mutlosigkeit oder Hoffnungslosigkeit gekämpft wie jeder, der offene Augen hat. Der fällt ja nicht vom Himmel, der Mut, das muss man auch lernen."
Wartenberg-Potter: "Sie ist eine Theologin, die: ‚Gott ist tot’ vertritt. Und das hat dann eine große Diskussion ausgelöst: was heißt das denn? Was für ein Gottesbild ist denn da totgesagt, denn es heißt ja nicht ‚Gott ist tot’, sondern bestimmte Vorstellungen von Gott."
Schon in den 60er-Jahren hatte Sölle provoziert mit Schriften wie "Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes" oder "Atheistisch an Gott glauben". Sie teilte nicht die Vorstellung eines allmächtigen, einsam über allem schwebenden Gottes. Im Gegenteil. Gott hat keine anderen Hände als unsere, war ihr Credo: "Gott braucht uns und wir brauchen Gott".
Steffensky: "Nicht der Gott, der oben sitzt und alles so herrlich regiert, und wir sind seine Marionetten, das war das eine, aber es war natürlich auch ihre politische Einstellung. Die Kirchenleitungen haben sehr oft versucht, sie zu verhindern. Und sie war eine Frau. Aber sie war auch scharf, sie hat auch angegriffen, sie war kein wehrloses Opfer da von irgendwelchen, sie hat gerne gekämpft auch."
Sölle: "Wenn man an die Springer-Presse denkt, dann genügt mein Name völlig, um Hölle auf Sölle zu assoziieren und dann das abzuschalten."
Sölle bereiste lateinamerikanische und andere sogenannte Dritte-Welt-Länder. In Lateinamerika lernte sie die Befreiungstheologie kennen und ihre bekannten Vertreter, Leonardo Boff, Ernesto Cardenal. Sie solidarisierte sich mit den erniedrigten, hungernden, rechtlosen Menschen und vertrat offensiv ihre Belange.
Laakmann: "Die Theologie der Befreiung in Südamerika war ja für sie ein deutliches Zeichen, dass Menschen auch ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen konnten und dass es nicht von Gott vorher bestimmt war, dass sie leiden müssen und dass sie Unterdrückte sind, sondern dass Gott von ihnen auch erwartete, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und aus der Bibel heraus für ihre Befreiung kämpfen."
Mit ihrem Versuch, die Kirche politischer zu machen, war Dorothee Sölle auch für die katholische Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche" eine wichtige Gesprächspartnerin. Annegret Laakmann, Referentin der Kirchenvolksbewegung, traf die engagierte Theologin auf Katholiken- und Kirchentagen.
Laakmann: "Was sie mit uns hauptsächlich verbunden hat, ist sicher der Kampf gegen die Strukturen. Also gegen die allmächtigen Strukturen, die es Laien und vor allem Frauen in der katholischen Kirche nicht möglich machen, wirklich präsent in der Kirche zu sein und auch an der Entwicklung der Kirche mitzuarbeiten, aber auch Glauben formen."
"Vom baum lernen
der jeden tag neu
sommers und winters nichts erklärt
niemanden überzeugt
nichts herstellt
einmal werden die bäume
die lehrer sein
das wasser wird trinkbar
und das lob so leise
wie der wind an einem septembermorgen"
Ein Lob der Mystik, des Geheimnisvollen. Wie so viele andere suchte auch Dorothe Sölle nach der Tiefe des religiösen Empfindens, nach dem Einssein mit allem Lebendigen. In ihrem 1997 erschienenen Buch "Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei" durchkämmt sie die alten Schriften, Literatur und Erfahrungen nach Botschaften, wie Mystisches sich integrieren ließe ins irdische Dasein.
Sölle (Vortrag Bad Segeberg, 1992): "Die Mystik ist immer wieder definiert worden in der klassischen Definition der scholastischen Denker als eine Erkenntnis Gottes aus Erfahrung... Und das hatte eine deutliche Spitze, diese Definition, gegen diejenigen, die meinen, dass Gott nur durch Priester, Sakramente und innerhalb einer Institution erfahren werden könne."
Steffensky: "Mit Esoterik hatte sie nichts zu tun. Mystik und Widerstand waren auch keine zwei getrennten Bewegungen, sondern die Mystik, das sind keine geschlossenen Augen, mit denen man weltabgewandt in sich selbst versinkt oder sonst wohin, sondern es ist auch die Mystik der offenen Augen, in der das Elend gesehen wird, wo Gott erkannt wird in den Gestalten des Elends."
"Aus erde bin ich gemacht
aus schlamm und dreck
aus blut und wasser
gern wär ich ein vogel
aus federn papier und dünnen knochen
nicht nass und blutig"
Der Vogel, ein Bild für Freiheit, für Leichtigkeit, für jubilierenden Gesang. Auch das war Dorothee Sölle.
Steffensky: "Sie war ja keine Heilige und wollte es auch nicht sein, dazu hat sie auch zu gerne Wein getrunken. Und gut gegessen. Und hat die Schönheiten des Lebens geliebt. Ich glaub, es gab überhaupt keinen Tag, ohne dass sie am Klavier gesessen hat, ohne dass sie gesungen hat, sie hatte eine sehr schöne Stimme, sie sang sehr gerne. Dafür konnte sie nicht so gut kochen und hat nicht soviel Mühe darauf verwandt. Sie war eine Poetin. Das war sie. Ich meine, wer unter den Theologen oder Theologinnen hatte in diesem Jahrhundert eine Sprache wie sie?"
Wird der engel mich fragen
In diesem november
habe ich zwei vorurteile korrigiert
das gegen amerikanische e-musik
mit hilfe von samuel barber
und das gegen blumen aus seide
draht und papier
Ich habe mich rühren lassen
im rahmen dessen was vorgesehen ist
für meine klasse
ich habe mich an dem luxus erfreut
den mädchen in hongkong herstellen
unterernährte
die in handarbeit blumen anfertigen
nichts essbares"
Dorothee Sölle (1985): "Was ich eigentlich möchte ist, die Bibel weiterschreiben. Die Bibel ist so gut, dass selbst 2000 Jahre Kirchengeschichte und eine evangelische Kirche, wie wir sie heute haben, sie nicht kaputt bekommt. Die ist so stark. Sie spricht auf jeder Seite von den Armen. Man kann das Buch nicht lesen und darüber wegsehen und nur an den Reichen interessiert, das geht nicht"."
Dorothee Sölle, zu ihren Lebzeiten Vorbild für die einen, für die anderen rotes Tuch. Schriftstellerin und evangelische Theologin ohne Heimat in der Institution Kirche. Eine kleine, zierliche, provokante Frau, deren Sprache ebenso scharf geschliffen wie poetisch sein konnte. Eine Frau, die das Staunen noch nicht verlernt hatte. Eine Frau, die etwas bewegen wollte in der Welt. Die nicht darauf baute, dass ein allmächtiger Gott schon alles richten werde. Erst recht nicht nach den Gräueln von Auschwitz.
Sölle: ""Für mich wichtigstes Thema war die Frage nach der Allmacht Gottes: Wo war Gott in Auschwitz? Warum hat er die Züge nicht angehalten? Wenn er doch alles kann per Knopfdruck? Wenn er da oben sitzt an seinem Schaltbrett und hat eine Milliarde Knöpfe, hätte er es doch machen können. Oder hatte er kein Interesse daran? Ich habe lange gerungen und ich denke, dass es eine falsche Vorstellung ist. Ich hab es auf die Formel gebracht: Gott war sehr klein in dieser Zeit in Deutschland. Er hatte fast keine Freunde und Freundinnen. Und Gott braucht uns."
"Wir haben den längeren atem
wir brauchen die bessere zukunft
zu uns gehören leute mit schlimmeren schmerzen
die opfer des kapitals
bei uns hat schon mal einer brot verteilt
das reichte für alle"
Sölle (1985): "Ich benutze manchmal die beiden Wörter ‚beten‘ und ‚dichten‘ synonym, als sagten sie das Gleiche, so ein Versuch des Selbstausdrucks, auch des ausgedrückten Schmerzes. Es geht mir oft so, wenn ich Meldungen lese in der Zeitung oder in Briefen, die Leute mir schreiben, Meldungen des Entsetzens, etwas Grauenvolles, dann ist es manchmal so, als könnte ich nicht atmen. Und dann hab ich das Bedürfnis, irgendetwas damit zu tun, aber manchmal denke ich auch, ich will es Gott erzählen und deswegen schreib ich es auf, damit er es endlich mal hört."
Fulbert Steffensky: "Das Leiden der Menschen war ihr ein theologisches Anliegen, nicht nur ein politisches Anliegen. In diesem Zusammenhang hat sie gesagt: man kann eigentlich nicht beten, ohne auch politisch zu beten. Man kann nicht Christ sein, ohne auch ein politischer Christ zu sein."
Die einstmals brave Bürgerstochter, die als Kind die Nächte im Luftschutzkeller nur als Abenteuer erlebt hatte, die Klavierspielen konnte und Gesang über alles liebte, die in zwei Ehen vier Kinder gebar und zwölf Jahre lang als Professorin am Union Theological Seminary in New York lehrte, das als Schule der Aufsässigen bekannt war, diese Frau ließ sich tief anrühren von den zahlreichen Schrecken, die Menschen über Menschen bringen. Aber auch von der Freude und der Schönheit des Lebens. Bis zu ihrem Tod hielt Dorothee Sölle fest an der Vision einer besseren Welt, sprach aus, was andere nur im Geheimen denken.
Steffensky: "Sie war eine gegensätzliche Frau. Sie war eine ebenso sanfte Frau, die sonntags in die Kirche gegangen ist, im Kirchenchor gesungen hat, Klavier gespielt hat, die Blumen geliebt hat. Und sie war eine zornige Frau. Und Zorn ist eine Begabung des Herzens. Wer Unrecht sieht und nicht zornig ist, der ist verstümmelt und sie konnte sehr in Rage geraten, ja."
Fast 35 Jahre lang war Dorothee Sölle mit Fulbert Steffensky, einem ehemaligen Benediktinermönch, verheiratet.
Steffensky: "Es ist erstaunlich, wie viele Briefe ich noch bekomme, in denen Menschen sagen, sie seien ihretwegen in der Kirche geblieben oder ihretwegen haben sie ihre Kinder taufen lassen, oder ihretwegen seien sie im Pfarramt geblieben, das ist ganz ungebrochen."
Friederike von Kirchbach: "Es gibt viele, viele Orte, sei es eine Hochzeitsanzeige, wo einem Zeilen von ihr begegnen, oder in Andachten in der Passionszeit, da finden sich immer wieder viele Texte von Dorothee Sölle, die sind eingegangen in unsere Alltagsgeschichten in den Gemeinden. In vielen Gemeinden gehören die mit zur Grundausrüstung an neuzeitlichen Texten. Sie hat ja sehr früh angefangen, richtungsweisende Texte zu schreiben, die bis heute in der Theologiegeschichte eine große, auch verbindende Rolle spielen. Also es traut sich doch heute keiner mehr, die Bedeutung von Dorothee Sölle für die neuzeitliche Kirchengeschichte zu bestreiten."
Friederike von Kirchbach, heute Pröpstin für Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, hatte schon Anfang der 70er-Jahre als Theologin in der DDR Sölles Texte verschlungen:
"Mir wurden als DDR-Theologin Bücher von Dorothee Sölle mit über die Grenze geschmuggelt. Das waren wirklich Kleinodien für mich, also ich hab die wirklich wie einen Schatz gehandelt."
Sölle kämpfte gegen blinden Gehorsam jeder Art, sie wollte Lebendigkeit, Kreativität, Phantasie – wie bei den monatlich stattfindenden "Politischen Nachtgebeten" in Köln, die sie mit initiierte und an denen auch der Schriftsteller Heinrich Böll teilnahm:
Steffensky: "68/69 das war ein Versuch in Köln, gesellschaftliche Zustände, gesellschaftliche Missstände vor der eigenen Tradition in Gottesdiensten zu bedenken, die politischen Nachtgebete. Die wurden sehr, sehr besucht, wurden auch nachgeahmt in vielen Städten. Die Texte dieser Nachtgebete wurden – wir haben, glaube ich, jedes Mal 2000 verschickt ohne Büro - und sie wurden von den Kirchenleitungen abgelehnt. Das hat uns in harte Auseinandersetzungen geführt."
Die Dorothee Sölle nie gescheut hat. Sie polarisierte die christliche Kirche. Dafür wurde sie abgestraft. Nach ihrer Habilitation im Jahr 1971 hat sie nie eine ordentliche Professur an einer deutschen theologischen Fakultät bekommen. Und nie eine feste Stelle bei der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie blieb die Mahnerin draußen vor der Tür.
Steffensky: "Sie war ein nicht durch kleine Münzen zu beruhigender Typ. Und das ist ein Teil ihrer Schönheit gewesen und ein Teil ihrer Würde auch."
Sölle forderte konsequent Abrüstung, weltweit, und ihr Land, Deutschland, sollte damit beginnen. Unilateral. Gemeinsam mit Heinrich Böll nahm sie an Sitzblockaden vor dem Pershing II-Raketendepot in Mutlangen teil und später mit dem Theologen Helmut Gollwitzer vor dem US-Giftgas-Depot in Fischbach. Wurde verurteilt wegen versuchter Nötigung. Immer gab es dieses Stück Anarchismus in ihr, die radikale Verbrüderung mit den Nicht-Konformen und den Verlieren der Gesellschaft.
"Liebe Schwestern und Brüder,
ich spreche zu Ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Erde kommt; einem Land mit einer blutigen, nach Gas stinkenden Geschichte, die einige von uns Deutschen noch nicht vergessen konnten; einem Land, das heute, 1983, die größte Dichte von Atomwaffen in der Welt bereit hält."
Mit diesen Worten begann Dorothee Sölle ihre Rede vor dem Weltkirchenrat in Vancouver.
Wartenberg-Potter: "Ich habe mit ihr da auch mal gestritten, als sie in Vancouver gesagt hat: meine Kirche, die ich manchmal wie das Grab Christi empfinde… Dann hab ich gesagt: Dorothee, das solltest du nicht sagen, das ist auch nicht gerecht, so hart vor aller Welt unsere eigene Kirche in dieser Form so beschreiben und da hat sie es dann abgemildert und gesagt: die Kirchen, die mir manchmal wie das Grab Christi vorkommen, also auf alle bezogen."
Bärbel Wartenberg-Potter, langjährige Freundin von Dorothee Sölle und bis Herbst 2008 Bischöfin von Lübeck, kann die Radikalität nicht teilen. Doch Sölle hielt es für ihre Pflicht, auszusprechen, was sie für die Wahrheit hielt. Auch wenn die nicht willkommen war. Ablehnung konnte sie ertragen. Schwerer war es, mit der eigenen Verzagtheit fertig zu werden.
Steffensky: "Der Mut floss ihr nicht einfach so zu. Sie hat selbst auch sehr stark gegen Mutlosigkeit oder Hoffnungslosigkeit gekämpft wie jeder, der offene Augen hat. Der fällt ja nicht vom Himmel, der Mut, das muss man auch lernen."
Wartenberg-Potter: "Sie ist eine Theologin, die: ‚Gott ist tot’ vertritt. Und das hat dann eine große Diskussion ausgelöst: was heißt das denn? Was für ein Gottesbild ist denn da totgesagt, denn es heißt ja nicht ‚Gott ist tot’, sondern bestimmte Vorstellungen von Gott."
Schon in den 60er-Jahren hatte Sölle provoziert mit Schriften wie "Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes" oder "Atheistisch an Gott glauben". Sie teilte nicht die Vorstellung eines allmächtigen, einsam über allem schwebenden Gottes. Im Gegenteil. Gott hat keine anderen Hände als unsere, war ihr Credo: "Gott braucht uns und wir brauchen Gott".
Steffensky: "Nicht der Gott, der oben sitzt und alles so herrlich regiert, und wir sind seine Marionetten, das war das eine, aber es war natürlich auch ihre politische Einstellung. Die Kirchenleitungen haben sehr oft versucht, sie zu verhindern. Und sie war eine Frau. Aber sie war auch scharf, sie hat auch angegriffen, sie war kein wehrloses Opfer da von irgendwelchen, sie hat gerne gekämpft auch."
Sölle: "Wenn man an die Springer-Presse denkt, dann genügt mein Name völlig, um Hölle auf Sölle zu assoziieren und dann das abzuschalten."
Sölle bereiste lateinamerikanische und andere sogenannte Dritte-Welt-Länder. In Lateinamerika lernte sie die Befreiungstheologie kennen und ihre bekannten Vertreter, Leonardo Boff, Ernesto Cardenal. Sie solidarisierte sich mit den erniedrigten, hungernden, rechtlosen Menschen und vertrat offensiv ihre Belange.
Laakmann: "Die Theologie der Befreiung in Südamerika war ja für sie ein deutliches Zeichen, dass Menschen auch ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen konnten und dass es nicht von Gott vorher bestimmt war, dass sie leiden müssen und dass sie Unterdrückte sind, sondern dass Gott von ihnen auch erwartete, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und aus der Bibel heraus für ihre Befreiung kämpfen."
Mit ihrem Versuch, die Kirche politischer zu machen, war Dorothee Sölle auch für die katholische Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche" eine wichtige Gesprächspartnerin. Annegret Laakmann, Referentin der Kirchenvolksbewegung, traf die engagierte Theologin auf Katholiken- und Kirchentagen.
Laakmann: "Was sie mit uns hauptsächlich verbunden hat, ist sicher der Kampf gegen die Strukturen. Also gegen die allmächtigen Strukturen, die es Laien und vor allem Frauen in der katholischen Kirche nicht möglich machen, wirklich präsent in der Kirche zu sein und auch an der Entwicklung der Kirche mitzuarbeiten, aber auch Glauben formen."
"Vom baum lernen
der jeden tag neu
sommers und winters nichts erklärt
niemanden überzeugt
nichts herstellt
einmal werden die bäume
die lehrer sein
das wasser wird trinkbar
und das lob so leise
wie der wind an einem septembermorgen"
Ein Lob der Mystik, des Geheimnisvollen. Wie so viele andere suchte auch Dorothe Sölle nach der Tiefe des religiösen Empfindens, nach dem Einssein mit allem Lebendigen. In ihrem 1997 erschienenen Buch "Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei" durchkämmt sie die alten Schriften, Literatur und Erfahrungen nach Botschaften, wie Mystisches sich integrieren ließe ins irdische Dasein.
Sölle (Vortrag Bad Segeberg, 1992): "Die Mystik ist immer wieder definiert worden in der klassischen Definition der scholastischen Denker als eine Erkenntnis Gottes aus Erfahrung... Und das hatte eine deutliche Spitze, diese Definition, gegen diejenigen, die meinen, dass Gott nur durch Priester, Sakramente und innerhalb einer Institution erfahren werden könne."
Steffensky: "Mit Esoterik hatte sie nichts zu tun. Mystik und Widerstand waren auch keine zwei getrennten Bewegungen, sondern die Mystik, das sind keine geschlossenen Augen, mit denen man weltabgewandt in sich selbst versinkt oder sonst wohin, sondern es ist auch die Mystik der offenen Augen, in der das Elend gesehen wird, wo Gott erkannt wird in den Gestalten des Elends."
"Aus erde bin ich gemacht
aus schlamm und dreck
aus blut und wasser
gern wär ich ein vogel
aus federn papier und dünnen knochen
nicht nass und blutig"
Der Vogel, ein Bild für Freiheit, für Leichtigkeit, für jubilierenden Gesang. Auch das war Dorothee Sölle.
Steffensky: "Sie war ja keine Heilige und wollte es auch nicht sein, dazu hat sie auch zu gerne Wein getrunken. Und gut gegessen. Und hat die Schönheiten des Lebens geliebt. Ich glaub, es gab überhaupt keinen Tag, ohne dass sie am Klavier gesessen hat, ohne dass sie gesungen hat, sie hatte eine sehr schöne Stimme, sie sang sehr gerne. Dafür konnte sie nicht so gut kochen und hat nicht soviel Mühe darauf verwandt. Sie war eine Poetin. Das war sie. Ich meine, wer unter den Theologen oder Theologinnen hatte in diesem Jahrhundert eine Sprache wie sie?"