Niemand hat die Hinweise der Kinder verstanden
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Dutzende von Kindern wurden auf einem Campingplatz im Kreis Höxter sexuell missbraucht. Die Täter stehen nun vor Gericht. Warum hat über Jahre niemand etwas bemerkt? Ein Gespräch mit der Traumatherapeutin Ursula Enders.
Der Fall, der am heutigen Donnerstag vor Gericht kommt, ist monströs: Über Jahre haben drei Täter auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde Dutzende von Kindern sexuell missbraucht. Warum hat niemand etwas davon mitbekommen - auch die Eltern nicht?
Die Traumatherapeutin Ursula Enders sagt: "Weil Eltern die Letzten sind, die vom Missbrauch erfahren. Kinder lieben ihre Eltern und geben ihnen die wenigsten Hinweise, weil sie wissen, wie sehr Eltern die Realität schmerzen würde. Und zum anderen ist es so, dass Täter in der Regel ganz gezielte Schweigegebote gegenüber den Eltern verhängen, zum Beispiel: 'Wenn deine Mama, dein Papa das erfährt, haben die dich nicht mehr lieb oder die werden krank'."
Erwachsene haben nicht gelernt darüber zu sprechen
Zudem hätten die meisten Erwachsenen nicht gelernt, über solche Themen offen zu sprechen, sagte sie im Deutschlandfunk Kultur. Kinder nähmen sehr genau wahr, wenn ein Gesprächsthema den Eltern Unbehagen bereite, fühlten sich abgewürgt und sprächen nicht weiter, so Enders, die "Zartbitter", eine der ältesten Kontakt- und Informationsstellen gegen sexualisierte Gewalt, leitet.
Die Therapeutin betonte, sie gehe davon aus, dass den Nachbarn auf dem Campingplatz etwas aufgefallen sein müsse. Doch auch hier wirkte offenbar ein letztlich verhängnisvoller Mechanismus: "In der Regel ist es so, dass Menschen dann sagen, ich möchte keinen falschen Verdacht aussprechen, und die Hinweise nicht zusammenfügen."
Schwere Vorwürfe erhebt sie in diesem Zusammenhang gegen die Politik: Die habe versagt, indem sie nicht in ausreichendem Maße Kontakt- und Beratungsstellen finanziere, an die sich Betroffene oder Zeugen wenden könnten. So müsse beispielsweise "Zartbitter" etwa 70 bis 80 Prozent der Beratungsanfragen abweisen, weil nicht ausreichend Personal zur Verfügung stehe.
(mkn)
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Heute beginnt, Sie haben es in den Nachrichten gehört, am Landgericht Detmold der Prozess gegen drei Täter im Missbrauchsskandal von Lügde , die über zehn Jahre lang Kinder unter anderem auf einem Campingplatz im Kreis Höxter schwer sexuell missbraucht haben sollen. Verhandelt wird wegen hundertfachen Missbrauchs und bisher 34 bekannten Kindern.
Die Männer sollen die Taten gefilmt und ins Internet gestellt haben, Tausende Dateien wurden gefunden. Und im Umfeld der Ermittlungen gab es außerdem zahlreiche Versäumnisse und Pannen, sodass man sich fragt, warum auch die Behörden das Ausmaß dieser Taten nicht mitbekommen haben. Ursula Enders ist Traumatherapeutin und Leiterin der Beratungsstelle Zartbitter, eine der ältesten Kontakt- und Informationsstellen gegen sexualisierte Gewalt in Deutschland.
Bei einem Missbrauchsfall von so erschütterndem Ausmaß, wie er sich bisher darstellt auf dem Campingplatz in Lügde , stellt sich die Frage, warum hat da keiner was gemerkt?
Enders: Das hat einfach damit zu tun, dass Erwachsene nicht gelernt haben, über das Thema zu sprechen. Kinder reden in der Regel klare Hinweise, aber hier haben vermutlich Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen und Eltern die Hinweise nicht verstanden. Das liegt zum Beispiel ganz einfach daran, dass in den Ausbildungsgängen für Pädagoginnen und Pädagogen in keiner Weise das Thema verankert ist. Das heißt, sie haben nicht gelernt, darüber zu sprechen. Kinder reden alle, aber wenn sie dann bei den ersten Hinweisen abgewürgt werden, Erwachsene erstaunt oder erschrocken reagieren, erzählen sie nicht weiter.
Kinder wollen Eltern keinen Schmerz zufügen
von Billerbeck: Aber gerade die Eltern, die doch am nächsten an ihren Kindern dran sind, das sind ja teilweise noch sehr kleine Kinder gewesen, Vierjährige haben wir gehört, warum haben die nichts mitgekriegt?
Enders: Weil Eltern die Letzten sind, die vom Missbrauch erfahren. Kinder lieben ihre Eltern und geben den Eltern die wenigsten Hinweise, weil sie wissen, wie sehr Eltern die Realität schmerzen würde. Und zum anderen ist es so, dass Täter in der Regel ganz gezielte Schweigegebote gegenüber den Eltern verhängen, zum Beispiel: Wenn deine Mama, dein Papa das erfährt, haben die dich nicht mehr lieb oder die werden krank. Das bedeutet, dass gerade die Liebe der Kinder zu den Eltern dafür sorgt, dass sie am wenigsten erfahren. Mir stellt sich vielmehr die Frage, warum haben die Erzieherinnen, die Lehrerinnen, die Lehrer nichts wahrgenommen.
von Billerbeck: Die hätten das eher wahrnehmen müssen, Ihrer Meinung nach?
Enders: Ja. Absolut.
von Billerbeck: Warum?
Enders: Weil Kinder dort sehr viel mehr Hinweise geben. In der Regel ist es so, dass heute die meisten Kinder über sexuelle Belästigungen sprechen, und zwar gegenüber den Freundinnen und Freunden. Gerade kleine Kinder plappern, und die plappern es meist nach der Erzieherin weiter. Und dann ist es quasi so, dass das nicht ernst genommen, nicht verstanden worden ist.
Haben die Nachbarn weggeschaut?
von Billerbeck: Nun gibt es ja nicht bloß die Erzieherinnen, die Lehrerinnen und die Eltern, sondern es gibt auch das nahe Umfeld, also sagen wir die Nachbarn. Nun sind das ungeheuerliche Vorwürfe, die da heute verhandelt werden, allein der Haupttäter, dieser Dauercamper, dem werden 298 Straftaten vorgeworfen. Der soll innerhalb von 20 Jahren 20 Mädchen sexuelle Gewalt angetan haben. Wieso hat das in der Nachbarschaft oder auf diesem Campingplatz oder im Umfeld niemand bemerkt?
Enders: Davon gehe ich nicht aus. Ich gehe ganz klar davon aus, dass mehreren Menschen wirklich etwas aufgefallen ist, was sie absolut irritierend zumindest fanden. Aber in der Regel ist es so, dass Menschen dann sagen, ich möchte keinen falschen Verdacht aussprechen, und die Hinweise nicht zusammenfügen. Und da ist es so, dass wir in Nordrhein-Westfalen und auch in anderen Bundesländern kaum Kontakt- und Informationsstellen gegen sexuellen Missbrauch haben.
Das heißt, es gibt kaum die Möglichkeit, dass Menschen, die irritiert sind, erste Hinweise mitbekommen, sich sachliche, unverbindliche Unterstützung erst mal holen, dass andere Menschen und Fachleute sie dann ermutigen, wirklich hinzugucken und ihnen auch eine Hilfestellung geben, wie sie Kinder ansprechen können. Das ist übrigens auch das, was Erzieherinnen und Lehrerinnen brauchen, und hier haben wir ein komplettes Versagen des Staates bundesweit, dass wir so gut wie keine Absicherung dieser Fachstellen haben.
Die Politik hat absolut versagt
von Billerbeck: Das Stichwort Versagen bringt mich zur nächsten Frage: Gestern hat der Landtag von Nordrhein-Westfalen ja einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, um das Versagen in Polizei, bei Jugendämtern aufzuklären. Haben Ihres Erachtens, in Anführungsstrichen, nur die Behörden versagt oder auch die Politik?
Enders: Hier hat absolut die Politik versagt. Ich habe vor 30 Jahren eine Expertise geschrieben für das Land Nordrhein-Westfalen, wo ich genau die Forderungen nach entsprechenden Fachstellen gestellt habe, das ist nicht eingelöst worden. Und das ist in anderen Bundesländern ebenso.
Bundesweit haben wir viele Stellen, die oft zu 20, 30, 40 Prozent nur finanziert sind, wir sind wirklich am Existenzminimum. Und vor allen Dingen, also gerade auch bei Zartbitter, was ja eine der renommiertesten Stellen ist, wir müssen irgendwie 70, 80 Prozent der Beratungsanfragen mehr oder weniger abweisen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.