Therapeutisches Reiten
Rachel Wittschier sorgt dafür, dass die Kommunikation zwischen Pferd und Klient stattfindet. © Sabine Lerche
Das Pferd als Coach
05:36 Minuten
Über zwei Millionen Menschen in Deutschland sind Pferdesportler, aber Reiten kann auch zu Therapiezwecken eingesetzt werden. Aber was genau macht das Pferd dabei? Unsere Kollegin Sabine Lerche hat einen Selbstversuch gemacht.
Der Konrader Hof bei Köln ist ein Pensionsstall mit über 50 Pferden. Neben den Freizeitpferden sind hier auch einige Therapiepferde.
Wie Nosy Nick, der Haflinger von Rachel Wittschier. Sie ist zertifizierte Pferdetherapeutin und bietet mit Nosy Nick Therapie und Coaching mit Pferdeunterstützung an.
Zum Einstieg beobachte ich mit ihr erst mal die Pferde: Zu dritt oder zu viert stehen sie draußen in eingezäunten Bereichen. Bald kommt Nosy Nick, um uns zu begrüßen.
Es ist gar nicht so einfach, ein Pferd zu führen
„Deine Aufgabe wird jetzt sein, ihn einmal hier rauszuführen, wir wollen quasi ganz auf die andere Seite.“
Wir nehmen Nosy Nick mit durch den Stall, dort merke ich schnell: Es ist gar nicht so einfach, ein Pferd zu führen. Vor allem, wenn das Pferd fast das Zehnfache von mir wiegt.
„Na komm! Ich kann nicht gegen dich gewinnen, komm! Das ist wie beim Tauziehen. Wenn du jetzt auf einmal loslässt, dann fliege ich nach hinten.“
Putzen als Beziehungsarbeit mit dem Pferd
Rachel beobachtet mich, spiegelt mir hin und wieder mein Verhalten und gibt mir Hinweise. Es sind immer wieder kleine Erfolgserlebnisse: Wenn das Pferd auf mich hört, macht mich das unwillkürlich ein bisschen stolz.
Zum festen Bestandteil jeder Stunde gehört auch das Putzen von Nosy Nick.
Eine gute Gelegenheit, um mit dem Pferd zu kommunizieren, eine Beziehung aufzubauen, Rachel muss kaum etwas erklären.
„Das Pferd wird dir schon zeigen, wenn es etwas besonders gerne mag, aber auch wenn es irgendetwas nicht mag.“
Und auch Nosy Nick weiß durch das Putzen, dass er gleich arbeiten muss.
Nosy Nick und ich gehen erst mal ein paar Runden in der Reithalle. Rachel beobachtet uns und erklärt, was das pferdegestützte Training so besonders macht:
Bei den meisten Therapien ist das Ziel, dass die Leute das, was sie erleben, oder das, was sie schon mal reflektieren, mitnehmen und in ihren Alltag transferieren können. Ich finde das im Stall hier so schön, weil es so handlungsnah ist. Es ist nicht: Wir reden nur darüber, Sabine, was machst du, wenn ... sondern es ist: Sabine, mache das, wenn das passiert. Und selbst, wenn es erst mal mit einem Pferd als anderes Lebewesen ist, es ist trotzdem ein Übungsraum. Es ist ein geschützter Raum. Arbeiten mit Pferden ist handlungsorientiert. Und Handlungsorientiertheit macht den Transfer einfacher.
Da der Mensch sein Verhalten auch auf den Umgang mit dem Pferd überträgt, kann Rachel in der Beobachtung Ängste, Unsicherheiten und Verhaltensschwierigkeiten erkennen und dann intervenieren.
Vor allem Menschen mit Bindungsstörungen, Depressionen und Angststörungen kommen ins pferdegestützte Training.
Der Umgang mit dem Pferd eröffnet Themen
Auch Essstörungen oder Tourette sind Krankheitsbilder, die in der Pferdetherapie behandelt werden können. Aber auch an sich und seinem Selbstbewusstsein arbeiten, funktioniert durch den Umgang mit Pferden:
Ich: „Schau mal, sein Kopf ist immer ganz nah an meinem Köper.“
Rachel: „Okay, was macht das mit dir?“
Ich: „Ich finde das schön. Das gibt mir das Gefühl, ich gehe mit dir mit. Und es ist nicht so: Wir gehen und ich schaue mir hier den Himmel an und dort die Häuser, sondern: Der geht mit mir mit. Schau mal, wie er den Kopf zu mir dreht. Ja, das ist schön.“
Rachel: „Und sofort hast du ein Lächeln auf den Lippen.“
Ich: „Im Vergleich zu vorhin es ist auch ganz einfach: Ich kann nur ganz leicht an seinen Kopf fassen - und dann dreht er schon die Richtung.“
Rachel: „Das klappt doch super. Oder hast du das Gefühl, das klappt noch nicht so, wie du dir das vorgestellt hast?“
Ich: „Ich frage mich ein bisschen, ob das wirklich an mir liegt, oder er hat so einen Automatismus: Er weiß, was er machen muss.“
Rachel: „Ne, das liegt schon an dir. Aber das ist spannend, dann traust du dir das eigentlich nicht zu. Oder es ist schwierig für dich anzunehmen, zu sagen, Sabine, du machst einen guten Job, deswegen macht er das. Da eröffnen sich einfach Sachen - einfach nur darüber, was die Leute dabei beim Handeln über sich, ihr Verhalten und über das Pferd äußern.“
Reiten ist vor allem eins: wackelig
Und tatsächlich, als ich später auf Nosy Nick sitze, ohne Sattel und Zügel, und Rachel uns durch die Halle führt, wiederholen sich meine Gedanken:
Ich: „Es wackelt ganz schön viel.“
Rachel: „Wir können auch aufhören.“
Ich: „Nein, alles gut. Aber es sieht bei den anderen gar nicht so aus als ob es wackelt.“
Das Pferd verurteilt nicht und hat Geduld
Rachel: „Das ist spannend, du hast gerade genau das wieder gemacht. Du hast deine Leistung gerade gemindert. Du hast indirekt gesagt, bei mir sieht das viel schlechter aus als bei den anderen.“
Es erstaunt mich, wie Rachel durch meinen Umgang mit dem Pferd mich lesen kann und Unsicherheiten entdeckt. Eher kann ich jetzt verstehen, warum Menschen gerne mit Pferden an sich arbeiten: Das Pferd verurteilt nicht, es hat Geduld und sorgt für eine angenehme Atmosphäre, in der ich mich ausprobieren darf.