Mehr Prävention und weniger Verbote
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Nur mit Einschränkungen geht es nicht: Eine Gruppe von Wissenschaftlern fordert zum Umdenken beim Umgang mit der Corona-Pandemie auf. Dabei könne von anderen Infektionen gelernt werden, sagt Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske.
Mehrere Wissenschaftler fordern im Umgang mit der Corona-Pandemie einen Strategiewechsel. Ihr nunmehr bereits sechstes Thesenpapier dazu soll am Sonntag veröffentlicht werden. Einer der daran beteiligten Wissenschaftler ist Gerd Glaeske. Er ist Apotheker und Gesundheitswissenschaftler; an der Universität Bremen leitet er das "Länger besser leben"-Institut.
Über Alternativen nachdenken
Die Gruppe der Wissenschaftler arbeite mit dem Maßstab der Evidenz, also der Begründbarkeit, unterstreicht Glaeske, der sich klar von Verschwörungstheoretikern abgrenzt. Man habe sich gefragt, was man hätte anders oder zusätzlich machen können, anstelle dessen, was verfügt worden sei, sagt der Gesundheitswissenschaftler. "Wir mögen das Wort alternativlos nicht sonderlich, weil es aus meiner Sicht auch immer Möglichkeiten geben muss, auch über Alternativen nachzudenken."
Daher zielten die Thesenpapiere darauf ab, dass mehr differenziert werde: Dies bedeute zu fragen, an welchen Stellen konsequent reagiert werden müsse und an welchen Öffnungen zugelassen werden könnten, wenn die Infektionsgefahr relativ gering sei, so Glaeske. Dabei gehe es nicht um einen grundsätzlichen Lockdown. Nach einem solchen "kommt es immer zu höheren Fallzahlen", unterstreicht der Gesundheitswissenschaftler. Mehr Möglichkeiten als derzeit könnten nach seiner Ansicht unter anderem im Kulturbereich geschaffen werden: "Ich denke, Kultur gehört zu unserem gesellschaftlichen Leben dazu."
Auf Prävention setzen
Ein großes Problem sei, dass viele Infektionen symptomfrei verlaufen. Wie viele es von diesen Fällen gebe, ist noch nicht bekannt. "Wir schätzen, dass es vier-, fünf-, sechsmal so viele sind, wie wir symptomatisch gemessen haben", erläutert der Wissenschaftler. "Insofern nützt es nicht, allen Asymptomatischen hinterherzurennen, sondern wir brauchen die Möglichkeit, darauf relativ schnell reagieren zu können."
Mittlerweile kenne man bestimmte Entwicklungen. Graeske fordert deswegen, dass in die Überlegungen einbezogen werde, wie man sonst mit Infektionen und Krankheiten umgehe. So müsse auf Gruppen zugegangen werden, die besonders gefährdet seien, unterstreicht der Gesundheitswissenschaftler: Prävention sei wichtig.
Notwendig sei es darum, "dass wir uns vor allem für die Gruppen, die wir schützen sollen – und schützen heißt für uns nicht wegsperren oder isolieren – möglichst viele Möglichkeiten schaffen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Oder aber, wenn sie in Pflege- oder Altenheime sowie Krankenhäusern sind, Vorkehrungen für Präventionsmaßnahmen zu treffen – wie wir sie beispielsweise auch treffen, wenn es um Krankenhauskeime geht."
Mehr Fantasie wagen
Graeske beobachtet zudem, dass es zu wenig Fantasie gibt, "was wir in einer differenzierten Weise bestimmten Gruppen in unserer Gesellschaft anbieten können. Ich glaube, das Problem ist, dass es immer um Verbote und Einschränkungen geht." Es werde nicht gefragt, was für ältere Menschen beispielsweise möglich sei. So könnten Einkaufszeiten über den Tag organisiert oder Besuchende in Heimen mit neuen Verfahren getestet werden. "Es geht nicht nur um das Virus, sondern auch um die Humanität und die Würde der Menschen, die die Hoffnung haben, nicht alleine in solch prekären Situationen sein zu müssen."
(rzr)