Die Journalistin Bascha Mika nimmt in der Mittagssendung Stellung zum Verhalten der SPD-Politiker Saskia Essen, Kevin Kühnert und Wolfgang Thierse.
"Wie so oft wurde moralisiert"
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Wolfgang Thierse hat eine Debatte um linke Identitätspolitik ausgelöst. Meron Mendel von der Bildungstätte Anne Frank warnt, es werde zu oft über Gefühle statt über Argumente gesprochen - mit negativen Folgen für den Diskurs.
Wolfgang Thierse hat mit einem Gastbeitrag in der "Frankfurter Allgemeinen" und einem Gespräch im Deutschlandfunk eine Debatte um "linke Identitätspolitik" ausgelöst – und die SPD-Vorsitzende Saskia Esken und ihr Vize Kevin Kühnert haben seine Unruhe offenbar soweit gesteigert, dass er kundtat, einen Austritt aus der SPD zu erwägen.
Der ehemalige Bundestagspräsident zeigte sich in seinen Wortmeldungen um die Debattenkultur besorgt. Im Einzelnen ging er etwa auf die Umbenennung von Straßen ein, die er mit der Politik in einer Diktatur verglich. Er schrieb auch, wenn Lehrende an Hochschulen Studierende fragen müssten, mit welchen Pronomen sie angesprochen werden wollten, sei das "keine Harmlosigkeit mehr".
Inzwischen haben Esken und Thierse miteinander gesprochen und wollen das noch vertiefen, Fragen dürften aber auf beiden Seiten weiter bestehen.
Verletze Gefühle in Debatten
Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, fürchtet beim Thema Identitätspolitik, eine Fokussierung auf verletzte Gefühle von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen führe dazu, dass bestimmte Debatten womöglich nicht mehr so stattfinden, dass die Chance besteht, dass sich die Menschen aufeinander zu bewegen würden.
"Wir hatten in den letzten Jahren immer wieder Debatten, wo von Anfang klar wird, das wird nicht konstruktiv enden, sondern ganz im Gegenteil: dass die beiden Lager sich unversöhnlich gegenüber stehen werden", sagt der Mitherausgeber des Buches "Triggerwarnung".
"Wir erleben immer mehr, dass statt über Argumente über Gefühle und Verletzungen gesprochen wird, und wir verlieren langsam – oder schneller – die Möglichkeit, eine sachliche Debatte zu solchen Themen zu führen."
Öffentlicher Raum – kein Safer Space
In diesem Sinne argumentierte auch Ulrike Ackermann in unserer Morgensendung: "Es wird nicht eine Auseinandersetzung geführt mit dem Argument, dass man einer bestimmten Position mit einer anderen Position begegnet, sondern – und das ist das Fatale der Identitätspolitik – dass vornehmlich aus der Herkunft heraus argumentiert wird", sagt die Politologin und Soziologin. "Das heißt, aus einem Opferstatus heraus, der dann die verletzten Gefühle zum Thema macht und nicht mehr die Argumente."
Mendel wiederum findet, es sei durchaus wichtiges Anliegen der Identitätspolitik, die Aufmerksamkeit auf die Perspektive von Gruppen in der Gesellschaft zu lenken, deren Stimmen nicht gehört würden und die marginalisiert würden.
Aber, so Mendel: "Es ist schwierig, wenn die Erwartung geweckt wird, dass der öffentliche Raum ein Safer Space wird, wo ich nur Inhalte höre, die mich nie verletzen werden. Das ist zwar wünschenswert, aber nicht realistisch."
Unerhörter Debattenwunsch Thierses
Er habe den Text von Wolfgang Thierse in der Frankfurter Allgemeinen so gelesen, dass der 77-Jährige sich wünsche, aus der Sackgasse der Identitätspolitik herauszukommen – "an einigen Stellen zwar ungeschickt", so Mendel, "aber da habe ich nicht den Unwillen gesehen, sondern den Wunsch nach einer Debatte."
Der Debattenwunsch sei aber nicht aufgegriffen worden, sagt Mendel mit Blick auf Saskia Essen und Kevin Kühnert, "sondern es wurde wie oft in solchen Debatten moralisiert".
Mendel bemängelt das Verhalten der prominenten SPD-Politikern: "Auf die Argumente wurde nicht mit Gegenargumenten – und es gibt gute Gegenargumente – reagiert, sondern es wurde behauptet, man schäme sich." Damit sei der Diskurs von einer Sach- auf eine Gefühlsebene gehoben worden, was in seinen Augen nicht zuträglich sei.
"Teile der Identitätspolitik – die problematischen – schauen gerade nicht auf die Argumente, sondern es reicht, dass es ein weißer, alter Mann ist, der spricht, damit ihm das Recht abgesprochen wird, bestimmte Argumente vorzubringen."
Identität der SPD
Bascha Mika sagte in unserer Sendung "Studio 9 - der Tag mit ...", es gehe bei den von Thierse aufgeworfenen Fragen um die Frage der Identität der SPD, denn dahinter stehe die Frage: "Sind Fragen von Kultur und Zugehörigkeit wichtiger als verteilungspolitische Fragen – geht es eher um das Soziale und Ökonomische oder geht es um Identitätsfragen, die durch ethnische, soziale oder sexuelle und kulturelle Merkmale bestimmt sind?"
Die frühere Chefredakteurin von "taz" und "Frankfurter Rundschau" fordert diese Diskussion ein und kritisiert das Verhalten der SPD-Führung: "Das sind Grundsatzfragen, die muss man diskutieren. Dann anzufangen, den Diskurs einfach auszusetzten, indem man sich gegenseitig beschimpft, wie Esken und Kühnert das getan haben – das ist der Tod im Topf der SPD."
Es gehe auch um einen Generationenkonflikt, meint Meron Mendel, und fordert mehr gegenseitige Akzeptanz. Er erhofft sich von der jungen Generation, die sensibler sei, dass sie älteren Menschen, die anders sozialisiert wurden, mehr Zeit gebe, ihre Sprache anzupassen. Zugleich sollten sich die, die andere Gewohnheiten haben, sich bewegen und auch prüfen, wo sie – womöglich sogar bewusst – verletzend seien.
(mfu)