Thilo Sarrazin: Wunschdenken
Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert.
DVA, München 2016
571 Seiten, 24,99 Euro
Fundgrube für geistig gehobene AfD-Sympathisanten
In seinem vierten Werk innerhalb von sechs Jahren rechnet Thilo Sarrazin mit der "spezifisch deutschen Spielart utopischer Politik" ab - also zum Beispiel mit der Flüchtlingspolitik. Für unseren Kritiker erweist sich der Autor als einer, dessen Kaltherzigkeit nicht kleiner ist als seine Klugheit.
"Wunschdenken" ist als Buch das, was Thilo Sarrazin als öffentliche Person ist: ein Stachel im Fleisch des so genannten linksliberalen Mainstreams. In seinem vierten Werk binnen sechs Jahren (!) rechnet der Autor mit der "spezifisch deutschen Spielart utopischer Politik" ab, die er in der Flüchtlingspolitik, aber auch in der Bildungs-, Energie- und EU-Politik, im Umgang mit Muslimen, dem demografischen Wandel und auf vielen weiteren Feldern walten sieht. Das Ergebnis sei "die Abschaffung der Wirklichkeit".
Dabei umrahmt Sarrazin seine Abrechnung mit weltanschaulichen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Ausführungen, die von Platons Politeia über die Kognitionsforschung bis zu "Politik und Erotik" reichen; er listet Merkmale richtiger und falscher Politik auf, erteilt praktische Ratschläge und rückt Stationen der eigenen Karriere ins beste Licht. Insofern ist Wunschdenken im Guten wie im Schlechten Sarrazins Opus magnum.
Nationalstaat als maßgebliche politische Bühne
Für Sarrazin ist der Nationalstaat die maßgebliche politische Bühne und der Erhalt des Wohlstands der Deutschen oberstes Ziel. Der bekennende Utilitarist, dessen Kaltherzigkeit nicht kleiner ist als seine Klugheit – Humanitäres kümmert ihn nicht –, unterstützt deshalb Zuwanderung nur, wenn sie die "kognitive Kompetenz" steigert. Sein Fixpunkt ist die Produktivität, die für den Wohlstand entscheidender sei als Demografisches, Migration, Renteneintrittsalter etc.
Im Nahen Osten, in Afrika und generell unter Muslimen sieht Sarrazin wenig Menschen mit der nötigen kognitiven Kompetenz, was er auf historische, kulturelle, religiöse und (erneut, wie schon im letzten Buch) genetische Faktoren zurückführt. Folglich hält er Angela Merkels Verhalten in der Flüchtlingskrise "für den größten Fehler der deutschen Nachkriegspolitik", der überdies den Herkunftsländern die besten Kräfte entziehe (laut Sarrazin können sich zerrüttete Staaten nur selbst retten).
Genervt ist das Enfant terrible der SPD vom bildungspolitischen "Gleichheitswahn". Sarrazin schätzt Begabung, nicht aber Inklusion; er verabscheut die Inflation hoher Abschlüsse bei gleichzeitiger Aushöhlung der Standards; er will von der Wiege bis zur Bahre Leistung (belohnt) sehen.
Fundgrube für geistig gehobene AfD-Sympathisanten
Sarrazin nennt fünf systematische Gründe für politisches Scheitern: Unwissenheit, Anmaßung, Bedenkenlosigkeit, Egoismus/Betrug sowie Selbstbetrug. Geschult in kritischem Rationalismus, hält er sich selbst für immun – und ist es natürlich nicht, wie man an Sachfehlern, Sprunghaftigkeit, Verkürzungen und Scheuklappenargumenten sieht. Zudem unterläuft er oft den eigenen Anspruch, indem er apodiktisch, polemisch und zahlengläubig agiert.
Stürme berechtigter und unberechtigter Kritik sind abzusehen. Mit Schaum vor dem Mund wäre die Lektüre von Wunschdenken indessen verschenkt.
Sarrazins Klage-Potpourri ist ein Symptom des erblühenden Rechts- und Nationalkonservatismus und vermutlich eine Fundgrube für geistig gehobene AfD-Sympathisanten. Die Parole kann nur lauten: keine Dämonisierung, sondern politischer Streit. Sarrazin wirkt unangenehm verhärtet, aber er kämpft in der demokratischen Kampfzone.