Thomas Brechenmacher: "Im Sog der Säkularisierung. Die deutschen Kirchen in Politik und Gesellschaft (1945-1990)"
be.bra Verlag, Berlin 2021
208 Seiten, 22 Euro
Vom Glauben abgefallen
10:04 Minuten

Die DDR hat es den christlichen Kirchen nicht leicht gemacht, trotzdem zeigte man sich im Vergleich zu anderen sozialistischen Regimen moderat, sagt der Historiker Thomas Brechenmacher. Der Staat war auch angewiesen auf ihre sozialen Einrichtungen.
Noch 1950 gehörten 95 Prozent der Bevölkerung in Ost und West einer christlichen Kirche an. Am Ende der DDR waren zwei Drittel der Bevölkerung konfessionslos, sagt Thomas Brechenmacher, Professor für Neuere Geschichte in Potsdam. 19 Prozent Protestanten und unter fünf Prozent Katholiken – mehr sei von den christlichen Kirchen am Ende nicht übrig geblieben.
"Es gehört zu den großen Erfolgen der DDR, die Entkonfessionalisierung weitestmöglich vorangetrieben zu haben", sagt Brechenmacher. Der Staat habe den christlichen Konfessionen beinahe den Garaus gemacht.
Evangelische Kirche als Biotop der Andersdenkenden
Dennoch sei die Kirche wichtig für die Friedensbewegung gewesen. "Vor allem der Protestantismus bot ein gewisses Biotop, das in der DDR überlebt hat", sagt der Historiker. Dieses Biotop sei in den 1980ern mit dissidentischen Bewegungen verschmolzen, die vor allem von der Basis kamen.
Aus Sicht der Diktatur sei es im Nachhinein ein Fehler, die Kirchen nicht ganz abgeschafft zu haben. Sie habe Kritikerinnen und Kritikern wörtlich Räume geboten. Die evangelische Kirche sei so Basis für Widerstand und die Bewegungen der friedlichen Revolution geworden.
Doch das habe "weniger mit Christentum zu tun", sagt Brechenmacher, sondern "sehr viel mehr mit dem Überdruss der Bevölkerung am sozialistischen DDR-Regime."

Thomas Brechenmacher untersucht in seinem Buch das Verhältnis von christlichen Kirchen und Politik.© Deutschlandradio / be.bra Verlag
Andere sogenannte "Volksdemokratien" seien mit größerer Gewaltbereitschaft zu Werke gegangen, etwa die Tschecheslowakei oder Ungarn. In der DDR sei das Vorgehen den Kirchen gegenüber "eher moderat" gewesen.
Ulbricht sei zunächst durchaus gewalttätiger gegen die Kirchen vorgegangen. Nach 1953 habe es aber eine Direktive aus Moskau gegeben, eine andere Strategie einzuschlagen. Die Menschen sollten überzeugt werden, dass Gott Ideologie sei, dass man Gott gar nicht brauche.
Ein "Strategiewechsel von einem gewalttätigen Vorgehen zu einem propagandistischen Vorgehen", sagt Thomas Brechenmacher.
"Dieses Haus bleibt uns ein fremdes Haus"
Dennoch hätten katholische und evangelische Kirche unterschiedliche Herangehensweisen gewählt. Die katholische Kirche habe sich stärker abgekapselt, auch, wenn sie sich mit dem Staat auf eine friedliche Koexistenz geeinigt habe.
"Dieses Haus bleibt uns ein fremdes Haus", habe Otto Spülbeck, der Bischof von Meißen, seine Haltung einmal begründet. Die katholische Kirche habe dafür den Preis gezahlt, politisch nicht mehr oppositionell zu wirken, sagt Brechenmacher.
Der protestantische Ansatz der "Kirche im Sozialismus" habe eine andere Perspektive gehabt. Der Staat sei nicht so sehr ein fremdes Haus, "sondern ein Haus, in dem wir leben". Man müsse versuchen, in diesem Haus so gut wie möglich zurechtzukommen.
Kirchliche Sozialeinrichtungen spielten wichtige Rolle im Staat
Ein weiterer Grund, dass der sozialistische Staat nicht final gegen Kirchen vorgegangen ist: Er habe die Kirchen gebraucht. Zum einen außenpolitisch, in seinem Streben nach internationaler Anerkennung. Zum anderen nach innen.
"In einem maroden sozialistischen System haben die kirchlichen Sozialeinrichtungen – also Kindergärten, Krankenhäuser, karitative Einrichtungen – einen wesentlichen Baustein des sozialistischen Sozialsystems ausgemacht", sagt Historiker Brechenmacher.
Kurioserweise sei ein großer Teil der Mittel aus dem Westen geflossen. Der Westen habe damit sogar das "System DDR" stabilisiert.
(ros)