Thomas Darnstädt: "Verschlusssache Karlsruhe"

Das Bundesverfassungsgericht als "Instanz der sauberen Hände"

Buchcover "Verschlussache Karlsruhe", vor einem Bild des Verfassungsgerichts.
"Verschlussache Karlsruhe" von Thomas Darnstädt. © Piper / imageo / Rainer Unkel
Von Gudula Geuther |
Kaum eine rechtsstaatliche Institution genießt in Deutschland so ein hohes Ansehen wie das Bundesverfassungsgericht. Weil es so unabhängig ist. Das Buch "Verschlusssache Karlsruhe" zeigt, dass es auch ganz anders hätte kommen können.
Es gibt gute Gründe für das Beratungsgeheimnis von Richtern. Es schützt ihre Unabhängigkeit. Es sichert den freien Gedankenaustausch unter den Richtern. Aber es wirkt auch an einem Mythos mit, den Juristen lange ernsthaft vertreten haben: dem, dass Richter Recht "finden", nicht selbst gestalten. Diese Idee eines vorgegebenen Rechts, das nur anzuwenden ist, ist häufig falsch. Ganz besonders aber gilt das für das Bundesverfassungsgericht, vor allem in seiner Anfangszeit, das wird in diesem Buch sehr deutlich.
Als das Bundesverfassungsgericht als das jüngste der bundesdeutschen Verfassungsorgane 1951 entstand, mussten die damals noch zwei mal zwölf Richter in den beiden Senaten nicht nur ihre eigene Rolle in dem jungen Staat erst finden. Sie mussten auch entscheiden, welchen Wert, welche Verbindlichkeit die Grundrechte haben sollten. Beide Fragen hängen eng zusammen. Die Richter klärten sie Schritt für Schritt und tun das bis heute. Die Ergebnisse sind in ihren Urteilen nachzulesen, samt Begründung. Was dort allerdings nicht sichtbar wird, ist der Weg hin zu dieser Entscheidung: Prägungen und Geisteshaltungen der einzelnen Richter, die Art, wie sie miteinander umgingen, welchen Einflüssen oder Einflüsterungen von Außen sie ausgesetzt waren.

Einflüsterer und Entscheider

In Thomas Darnstädts Buch werden erstaunlich viele solcher Fragen beantwortet. Darnstädt hat für den Spiegel Jahrzehnte lang beide Seiten beobachtet: Die Einflüsterer und die Entscheider. Das Ergebnis ist die packende Beschreibung einer Selbstfindung, die nicht nur das neue Gericht, sondern damit wesentlich die neue Republik geprägt hat.
"Verschlusssache Karlsruhe" heißt dieses Buch, weil Darnstädt tatsächlich ganz neue, bis dahin verschlossene Akten zu sehen bekommen hat. Er bekam sie, als zwei unterschiedliche Fristen ausgelaufen waren, eine dreißigjährige für die Prozessakten, eine stolze und ungewöhnliche sechzigjährige für das Schriftgut der Richter. Diese lange Frist setzt auch den Rahmen für den Gegenstand, mit dem sich der Autor beschäftigen konnte, nämlich nur die ersten Jahre. Das ist kein Nachteil, denn es waren diese Jahre, die besonders prägend waren, und es hat sich gelohnt, dass Darnstädt in wenigen ausgewählten Fällen in die Tiefe gegangen ist.

Keine Heldengeschichte …

Keine Frage, Darnstädt ist ein Fan des Bundesverfassungsgerichts. Aber es sind keine Heldengeschichten, die er schreibt. Das erste Kapitel des Buches beschreibt die wahrscheinlich schlimmste Niederlage des Gerichts, das Verfahren um das Parteiverbot der KPD. Eine Niederlage ist das nicht wegen des Ergebnisses, sondern wegen des Wegs dahin und wegen der Rolle, in die sich die Richter haben pressen lassen, direkte Kontakte, politische Instrumentalisierung inklusive.
Die Gefahr der illiberalen Demokratie war ihnen dabei bewusst, und doch waren sie "Kinder ihrer Zeit" - dieses Ringen wird deutlich. Erwin Stein etwa, Richter und Berichterstatter im KPD-Verbotsverfahren, dessen jüdische Frau in den Suizid getrieben worden war, und der wohl gerade aus Angst vor jeglichem totalitärem Regime hart agierte: Er schrieb ein Votum, auf dessen mindestens ersten 349 Seiten laut Darnstädt rechtliche Erwägungen fehlen. In Randnotizen der Richter, in Handakten und - jenseits der geheimen Akten - Erinnerungen von Beobachtern werden Entscheidungsprozesse sichtbar.
Das gilt erst recht für die Entscheidungen, die positiv prägend für die Bundesrepublik blieben. Die Gleichberechtigung auch im Zivilrecht, die eine Frau, Elisabeth Selbert, ins Grundgesetz gezwungen hatte, und die dann die einzige Frau unter den 24 Richtern durchsetzte, Erna Scheffler. Ihr prägender Einfluss wird durch ihre Handakten deutlich, und noch mehr durch die anfangs kritischen Randbemerkungen einzelner männlicher Kollegen.

… aber ein Glücksfall der Geschichte

Wegweisend für den neuen Staat ist die Entscheidung im Fall Wilhelm Elfes. Der scharfe Kritiker Adenauers war CDU-Mitglied mit SED-Kontakten. Als sein abgelaufener Reisepass nicht verlängert wurde und er deswegen klagte, sprach sich das Bundesverfassungsgericht kurzerhand die Kompetenz zu, im Zweifel das gesamte Rechtssystem zu untersuchen. Das geschah gegen einen Bundesgerichtshof, der weitgehend aus Männern bestand, deren Karriere in der NS-Zeit wenig gelitten hatte. Die Verfassungsrichter erklärten die Grundrechte zum Wertegerüst des Staates, und weiteten das wenig später im Fall Lüth abgeschwächt auf das Zivilrecht aus. Dass sich die Verfassungsrichter gegen die BGH-Richter etablierten, war für die Kritiker eine Anmaßung. Für Darnstädt dagegen wohl der eigentliche "Glücksfall der Geschichte", als die er das Bundesverfassungsgericht beschreibt.
Wie gesagt, der Autor ist ein Fan des Bundesverfassungsgerichts. Er beschreibt es in seiner Anfangszeit als die "Instanz der sauberen Hände", nennt die Richter die, "die in den 146 Artikeln der neuen Verfassung die Werte der Aufklärung entdeckten." Das Bemerkenswerte an dem Buch ist: Der Eindruck vermittelt sich.

Thomas Darnstädt: "Verschlusssache Karlsruhe. Die internen Akten des Bundesverfassungsgerichts"
Piper Verlag, München 2018
416 Seiten, 24 Euro

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