Thomas de Maizières 10 Thesen

Höchste Zeit über Leitkultur zu diskutieren!

Drei Gartenzwerge stehen auf der Wiese vor dem Reichstag in Berlin.
Was ist deutsch? Wonach richten wir unser Handeln aus? Das sind berechtigte Fragen, meint Christian Schüle © imago/ Steinach
Von Christian Schüle · 08.05.2017
Wer Leitkultur als etwas Nationalistisches versteht, verkennt ihren eigentlichen Sinn, meint der Publizist Christian Schüle. Viel mehr sei sie das Resultat einer über Jahrzehnte hinweg entwickelten Ethik. Und deshalb sei die vom Innenminister angestoßene Debatte nicht falsch, sondern überfällig.
Ich habe eine Woche darüber nachgedacht, warum ich Thomas de Maizières Einladung zur Diskussion über eine Leitkultur für richtig und die erwartbare Häme daraufhin für abgestanden, wohlfeil und bequem halte. "Leistungsprinzip und soziale Sicherung"? Ja sicher – oder etwa nicht? "Bildung als Wert an sich"? Natürlich! Kulturnation? Ja doch! "Minderheitenschutz und Toleranz"? Ganz gewiss.
Leitkulturelle Thesen sind Wegmarken; es sind offene Narrative, keine diktierten Vorschriften. Kultur ist ja gerade nicht das Identitäre, ist nicht Identität, nicht elitärer Oktroy, sondern umfasst alle Wert- und Normvorstellungen einer Bürgergesellschaft im steten Wandel ihrer Umstände. Meiner Auffassung nach legen diese heute identifizierbaren Vorstellungen den Schluss nahe, dass die allermeisten Deutschen gegen Todesstrafe und Folter sind, gegen Diskriminierung und Intoleranz. Wir sagen "Nie wieder Auschwitz" und lehnen, mehrheitlich zumindest, Kriegseinsätze ab. Das sind das Denken und Handeln der meisten prägende Einstellungen, die weit über die Paragrafen der Verfassung hinaus das Selbstverständnis sehr vieler Menschen in ihrer alltäglichen Lebensweltführung leiten. Sie sind: leitende Kultur.

Leisten wir uns eine offene Debatte über Leitnormen!

Man muss de Maizières Satz "Wir sind nicht Burka" keineswegs gelungen finden, um unter dem zugegeben etwas unglücklichen Begriff "Leitkultur" doch vor allem eine Metaphysik der Sitten verstehen zu können: Rechtsgleichheit und Rechtsverbindlichkeit sozialer und politischer Institutionen etwa, das duale Ausbildungssystem, den Generationenvertrag, die Tarifautonomie, Gewaltenteilung, das Prinzip der Repräsentation des Bürgers durch den Mitbürger, die Trennung von Staat und Kirche.
"Leitkultur" bedeutet etwas ganz anderes als die Anrufung einer christlich-theologischen Überzeitlichkeit in nationalem Gewande. Sie lässt sich ohne weiteres als Resultat einer lebensweltlichen Ethik verstehen, die sich über die Jahrzehnte hinweg bewährt und beglaubigt hat.
Wird nicht ständig kritisiert, wir hätten außer Freihandel, Export und Profit keine Idee und Definition von uns selbst? Dann leisten wir uns doch eine offene Debatte über Leitnormen, was ja meilenweit entfernt ist vom klebrigen, selbstverliebten Nationalismus und der schäbigen Ausgrenzung des Andersdenkenden, Andersliebenden, Andersgläubigen in immer mehr Ländern des einst westlichen Wertebündnisses. Es geht bei Erziehung, Minderheitenschutz und Toleranz ja nicht um das paternalistische Diktat einer staatlichen Zivilreligion, sondern um die Lehren aus den Menschheitsverbrechen der Alt-Nazis und die klare Abgrenzung gegen die Menschenverachtung der Neo-Nazis.
Jede freie, also nicht-despotische Regierungsform bedarf einer starken Identifikation von Seiten ihrer Bürger, das lehrt die Geschichte. "Dieses Solidaritätsgefühl", so hat der große Philosoph Charles Taylor zu Recht geschrieben, sei Bestandteil der ursprünglichen Bedeutung von "Patriotismus". Das heißt ja doch: Solidarität setzt Sittlichkeit und Sittlichkeit setzt Verbindlichkeit voraus.

Zehn Thesen als Ausweis politischer Klugheit

De Maizières zehn Thesen als Referenz an die Zehn Gebote mögen in ihrem Wir-Stil und der geschlossenen Form streitbar und als willkürliche Auflistung durchaus problematisch sein. Doch könnte man in der Einladung zur Diskussion darüber nicht auch einen Ausweis politischer Klugheit sehen?
In Zeiten, da Identitäre Bewegungen und nationalkonservative Europafeinde, da Reichsbürger, Demokratieskeptiker und chauvinistische Abendlandschützer zahlreicher, bedrohlicher und für viele attraktiver werden, ist es nicht nur sinnvoll, sondern sogar vorausschauend, an die moralische Selbstverpflichtung jedes Mitbürgers zu allgemeinverbindlichen Normen jener Bundesrepublik zu appellieren, die jedem Einzelnen so unerhört viel Freiheit zur Selbstverwirklichung bietet. Die Res publica, die, wie das Wort sinngemäß sagt, "Sache, die uns alle angeht", das Gemeinwohl also, ist die Basis des sozialen Friedens, ohne den Integration und Inklusion erfahrungsgemäß nicht gelingen.
Ich finde, es ist Zeit für ein Bekenntnis.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "ZEIT", und lebt heute als freier Essayist, Schriftsteller und Publizist in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und die Essays "Was ist Gerechtigkeit heute?" und zuletzt "Heimat. Ein Phantomschmerz" (Droemer-Verlag). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

© Nicole Strasser
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