Der Palast des Briefträgers
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"Es kann sehr viel Schönheit entstehen, wenn wir uns die Zeit dafür nehmen", sagt Kulturmanager Thomas Girst. In "Alle Zeit der Welt" erzählt er unter anderem die Geschichte eines Briefträgers, der in 33 Jahren einen Palast in seinem Gemüsegarten baute.
Meyer: Sie erzählen Geschichten von Menschen oder Phänomen, die einem einen anderen Umgang mit Zeit nahebringen können – anders als in unserer hektischen Gegenwart –, und sie fangen gleich an mit einer besonders schönen Geschichte von einem französischen Briefträger, der ganz alleine einen Palast erbaut hat. Was war das denn für ein Mann und was für einen Palast hat er gebaut?
Der Palast des Briefträgers
Girst: Dieser gute Mann war tatsächlich ein Briefträger, der täglich 20 Kilometer lief, um auf drei kleinen Weiler verteilt eben die Post an Mann und Frau zu bringen. Und als er 43 war, stolperte er über einen Stein, den er aufhob. Darin erkannte er auf einmal alle Formen und Menschen, Pflanzen, Tiere und nahm den mit in seinen Gemüsegarten. Und ab diesem Tag legte er jedes Mal Steine in seinem Gemüsegarten ab, denen er habhaft wurde auf seinen langen Spaziergang beim Postaustragen.
Und 30 Jahre später steht in seinem Gemüsegarten ein Palast aus diesen zusammengetragenen Steinen, Kieseln und Muscheln. Ein Palast, den der Briefträger natürlich gar nicht hätte bauen können als Architekt. Aber er wusste ungefähr, was er dort bauen soll, weil zu dieser Zeit auch die Fotografie in die Postkarten und in die illustrierten Zeitschriften, die er verteilte, einzog. So dass wir einen ganz eklektischen Palast im Gemüsegarten dieses Briefträgers vor uns sehen, der, glaube ich, 25 Meter lang und 15 Meter hoch ist – mit einem Altar für den zuerst gefundenen Stein im zweiten Stock.
Meyer: Sie fasziniert an dieser Geschichte die unendliche Ausdauer und Geduld und Beharrlichkeit und der andere Umgang mit Zeit bei diesem Briefträger?
Girst: Ja, es ist unglaublich. Das Letzte, was er in seinen Palast meißelte, war: 10.000 Tage, 93.000 Stunden und 33 Jahre Anstrengung.
Ich habe mir einen Stein mitgenommen von einem der Felder, die diesen Ort in der Mitte Frankreichs umgeben, so wie das der Briefträger Cheval gemacht haben mag. Der liegt auf meinem Schreibtisch und zeigt mir eigentlich jeden Tag, zu was ein einzelner Mensch fähig ist, wenn er sich etwas in den Kopf setzt. Es kann sehr viel Schönheit entstehen, wenn wir uns die Zeit dafür nehmen.
Langzeit-Experiment mit Pechtropfen
Meyer: Genau, sich die Zeit dafür zu nehmen. Eine andere Zeitgeschichte fand ich sehr faszinierend in Ihrem Buch, das ist die Geschichte von einem australischen Experiment. Da geht’s um die Fließgeschwindigkeit von Asphalt. Das kennen wir als Straßenbelag, es ist recht hart. Was wurde da denn experimentiert in Australien mit Asphalt und in welchem Tempo vor allem?
Girst: Das Experiment, auf das Sie ansprechen, ist tatsächlich das älteste noch laufende naturwissenschaftliche Experiment der Menschheitsgeschichte, seit 1927 ist das zu bewundern an der University of Queensland in Brisbane in Australien. Pech ist nicht fest, sondern ist nur zwei Millionen mal zähflüssiger als Honig. Also Pech fließt, und das wollte damals ein Professor beweisen und startete das sogenannte Pechtropfenexperiment.
Meyer: Und das tropft da unendlich langsam herunter. Interessant ist dann in Ihrer Erzählung, dass Sie diese Tropfgeschwindigkeit des Pechs oder des Asphalts in Beziehung setzen mit der Bewegungsgeschwindigkeit des australischen Kontinents. Wie ist denn da der Zusammenhang?
Der Kontinent Australien bewegt sich schneller als Pech tropft
Girst: Tatsächlich erzählte mir der Director for Engineered Quantum Physics, der diesem Experiment unter anderem vorsteht, dass wenn wir vor diesen Pechtropfen stehen – von denen sich einer vielleicht in 30 Jahren einmal löst – wir uns schneller bewegen auf dem australischen Kontinent. Der bewegt sich nämlich mit 6,8 Zentimeter im Jahr nordwärts.
Das ist ungefähr die zehnfache Geschwindigkeit, in der sich der Pechtropfen formiert, um sich dann aus dem Trichter unten zu lösen. Also es bleibt spannend, wenn man die Zeit etwas aushebelt und die sich nimmt.
Meyer: Eine irre Vorstellung: Der Kontinent ist schneller unterwegs als der Tropfen, dem man zuschauen kann. Also es geht um Langsamkeit oder auch Entschleunigung in Ihrem Buch. Wir haben jetzt über zwei der Geschichte in Ihrem Buch gesprochen. Haben Sie jetzt auch insbesondere auf Geschichten gesetzt, um Ihr Buch abzusetzen von den vielen hundert, wenn nicht tausend Entschleunigungs-Ratgebern,die es ja schon gibt?
Kunst ermöglicht Kommunikation über Jahrhunderte hinweg
Girst: Ich freue mich, dass Sie darauf zu sprechen kommen. Tatsächlich möchte ich nichts anderes zeigen – in 28 Kapiteln aus Wissenschaft, Literatur, Kunst, Biologie et cetera –, als zu was der Mensch in der Lage ist, wenn er sich die Zeit nimmt.
Baudelaire hat das einmal wunderschön formuliert, als er sagte, dass wir über Kunstwerke, über Musikstücke, über Literatur über die Jahrtausende und Jahrhunderte hinweg miteinander kommunizieren können, so wie Leuchttürme entlang der nächtlichen Küste einander Lichtsignale zuwerfen.
Und nichts mehr und nichts weniger möchte mein Buch – nämlich keine neuen Dogmen errichten. Ich predige weder den Digital Detox noch die Entschleunigung, sondern möchte, dass man einmal innehält und sieht, zu was wir in der Lage sind in einer Zeit, wo das Geschäftsmodell der Firmen, mit denen wir uns über Social Media umgeben, darauf beruht, dass man uns ablenkt. Und es einfach darum gehen sollte, dass man nicht immer nur gehetzt ist, sondern sich die Zeit für Dinge nimmt.
Bach auf der Autobahn
Meyer: Sie sind ja auch für eine große Firma tätig. Sie sind gelernter Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler, aber seit 2003 – was heißt aber –, seit 2003 verantworten Sie das internationale Kulturengagement der BMW Group. Wenn man jetzt für so ein Großunternehmen wie BMW arbeitet, muss man wahrscheinlich eher flott unterwegs sein in Ihrem Alltags- und Berufsleben, oder?
Girst: Das ist richtig, aber Sie können ja auch mit 250 Kilometer auf der Autobahn Bach mitpfeifen, wenn Sie Lust haben. Das hat nicht zwingend etwas mit der Geschwindigkeit zu tun.
Meyer: Aber das verstehen Sie jetzt nicht ernsthaft als Entschleunigung, mit 250 über die Autobahn brettern und dann aber zum Ausgleich Bach pfeifen?
Girst: Nein, überhaupt nicht, das war jetzt nur etwas provokant in den Raum gestellt. Gerade deshalb war es mir wichtig, ein Buch zu schreiben, weil die Taktzahl, innerhalb derer Sie reagieren, agieren müssen in Ihrem Job – und das sieht natürlich bei den meisten Jobs nicht anders aus, wenn man ausgelastet arbeitet. Sie wissen, Sie werden von Ihren Kollegen immer nur unterbrochen mit dem Hinweis: Hast du mal einen Moment? Hast du mal einen Augenblick? Kann ich dich mal für zwei Minuten sprechen?
Da wird sozusagen die Zeiteinheit schon vorgegeben, entschuldigend vorgetragen, bevor man mit einem Kollegen in Kontakt tritt. Aber es ist doch gerade die Zeit, die man sich am Stück nimmt, die zwei Stunden, die drei Stunden, innerhalb derer man wirklich in der Lage ist, etwas ohne Ablenkung zu leisten. Und ich glaube, auch für den Arbeitsalltag kann das durchaus wenn auch kein Vademecum sein, aber dann doch ein Hinweis darauf, wie man es vielleicht besser macht.
Ressourcenverschwendung und Umweltverschmutzung
Meyer: Sie reden in Ihrem Buch auch über die Hektik unserer Zeit, über die kurze Taktung unseres Arbeitslebens. Sie beklagen im Einstieg zu Ihrem Buch auch die Ressourcenverschwendung und Umweltverschmutzung unserer Zeit. Da habe ich dann allerdings schon gedacht: Wie bringen Sie eigentlich diese Klage mit Ihrer Tätigkeit für ein Unternehmen wie BMW zusammen? Mit den großen Limousinen dieses Unternehmens werden ja durchaus auch Ressourcen verbraucht und die Umwelt belastet.
Girst: Zunächst mal sollte es keine Klage sein. Mein Buch ist keine Jeremiade, sondern eine Feier dessen, was Menschen auf diesem Planeten leisten können. Natürlich sollte man immer wieder kritisch auch den Blick auf den Arbeitgeber, auf den eigenen lenken.
Hier bin ich allerdings sehr froh, dass wir tatsächlich auch international dafür gefeiert werden: Was Elektromobilität anbelangt, was die Reduzierung von CO2 in der Gesamtflotte anbelangt und auch die Nachhaltigkeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Wenn es darum geht, die Materialien, die für die Automobilität immer noch wichtig sind, auch ressourcenschonend zu verbauen. Was nicht heißt, dass man das nicht noch optimieren kann. Aber ich hoffe und denke, da sind wir auf dem richtigen Weg.
Schriftsteller als Langsamkeitsexperten
Meyer: Sie beziehen sich immer wieder auf Schriftsteller in Ihrem Buch, man kriegt den Eindruck, Schriftsteller sind geborene Langsamkeitsexperten. Baudelaire haben Sie schon erwähnt – vielleicht sagen Sie uns zum Schluss noch, welcher Schriftsteller mit seinem Werk Ihnen am besten dabei hilft, vom Tempo runterzukommen, vom Tempo unserer Gegenwart?
Girst: Wer vom Tempo der Gegenwart runterkommen will, liest auf alle Fälle Adalbert Stifters "Nachsommer". Das war schon in der Zeit, als es entstand im 19. Jahrhundert, ein Buch, das nur wenige vermocht haben, tatsächlich mit Geduld zu lesen. Mir persönlich imponiert allerdings am allermeisten Marcel Proust, über den ich auch schreibe und ihm ein Kapitel widme, der die letzten 13 Jahre seines Lebens kaum noch sein Zimmer verließ, um einen Jahrhundertroman zu schreiben, "Die Suche nach der verlorenen Zeit", der alles diesen Worten opferte, die er der Nachwelt überlassen hat.
Man muss sich darauf einlassen, und ich differenziere im Vorwort zwischen Wissen und Information. Information ist überall erhältlich über Social Media, aber Wissen muss man sich erarbeiten. Das heißt auch, dass man sich mit Schriftstellern, von denen man möglichst viel mitbekommen möchte, natürlich denen auch die Zeit widmen sollte und sich mit ihnen auch die Mühe geben sollte, sie langsam zu lesen, um sie zu verstehen. Proust bietet da einen wunderbaren Spielplatz.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.