Der Elektronik-Pionier Thomas Kessler (1937 - 2024)

Utopie im Computerzeitalter

55:38 Minuten
Thomas Kessler blickt ernst, aber freundlich in die Kamera.
Wir erinnern an den Schweizer Komponisten Thomas Kessler. © Priska Ketterer
Von Florian Neuner · 02.05.2024
Seine live-elektronischen Orchesterwerke mit dem Titel „Utopia“ stellen so etwas wie die Summe seines Schaffens: Thomas Kessler war ein Pionier der elektronischen Musik und hatte u. a. Studios in Berlin und Basel gegründet. Im April 2024 ist er mit 86 Jahren gestorben.
Die Entwicklung der elektronischen Musik von ihren analogen Anfängen bis in die digitale Gegenwart, von der Bandmaschine bis zum Laptop – Thomas Kessler überblickte sie aus eigener praktischer Erfahrung.
"Die Elektronik", sagte er, "ist ein Instrument in einer anderen Dimension, aber es ist das einzige wirklich neue Instrument, das wir haben.

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Mit seinem Orchesterstück "Utopia" hatte Thomas Kessler im Jahr 2009 versucht, ein Stück Zukunft vorweg zu nehmen. Es handelte sich dabei um kein gewöhnliches Konzert, denn der Komponist hatte den Musikern etwas völlig Ungewohntes abverlangt: Jeder der 71 Instrumentalisten hatte neben den Noten ein Laptop vor sich und einen Lautsprecher am Platz und die Aufgabe, für die individuelle live-elektronische Verstärkung seiner Instrumentalstimme zu sorgen.
Lange hatte Thomas Kessler in kleineren Besetzungen ausprobiert, was er in der "Utopia"-Reihe ab 2011 auf ein ganzes Orchester übertrug. Schon in seinem "Control"-Zyklus (1974-2005) mussten die Interpreten selbständig mit live-elektronischen Apparaturen umgehen. In den neuen, großformatigen Stücken bildet nun jeder Orchestermusiker eine unabhängige live-elektronische Einheit mit einem eigenen Lautsprecher. Aus vielen kleinen Einheiten addiert sich der Gesamtklang, den kein Klangregisseur zusammenmischt – ein Wagnis, auf das Kesslers Navigieren zwischen elektronischer und Instrumentalmusik konsequent zusteuerte.

Anfänge in Berlin

Im West-Berlin der sechziger Jahre, wo er u. a. bei Boris Blacher studierte, stieß Kessler auf Vinko Globokar und dessen Ensemble New Phonic Art, das er elektronisch unterstützte, und gründete auch ein eigenes elektronisches Studio. Später leitete er das Elektronik Beat Studio Berlin und das Elektronische Studio Basel. Neue Herausforderungen suchte der 1937 in Zürich geborene Kessler auch nach seiner Emeritierung und zog nach Toronto. So kam es beispielsweise zu einer Zusammenarbeit mit dem Slam-Poeten Saul Williams aus Los Angeles.
Auch wenn es von Thomas Kessler vereinzelt reine Tonbandstücke gibt, hat ihn Elektronik doch immer in erster Linie in Kombination mit live spielenden Instrumenten interessiert. Denn Kessler begriff die Live-Elektronik als Erweiterung instrumentaler Möglichkeiten und Spieltechniken.

Utopie im Computerzeitalter
Thomas Kesslers Navigieren zwischen elektronischer und Instrumentalmusik
Von Florian Neuner

Produktion: Deutschlandradio Kultur 2015

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