Thomas Knoefel: Okkultes Brevier. Ein Versuch über das Medium Mensch
Matthes & Seitz, Berlin 2019
394 Seiten, 28 Euro
Die Avantgarde der Gespenster
06:34 Minuten
Können Dämonen Blitze durch einen Raum zucken lassen? Gibt es Menschen, die mit dem Jenseits kommunizieren? Im 19. Jahrhundert waren nicht wenige große Geister davon überzeugt, das zeigt Thomas Knoefel in einem "Okkulten Brevier".
Zwei Schwestern hören seltsame Klopfgeräusche und meinen, so kommuniziere der Geist eines Ermordeten mit ihnen. Der Fall macht Schlagzeilen, als sich Knochenfragmente unter dem Haus im Dörfchen Hydesville nördlich von New York finden. Bald können die Schwestern Catherine und Margaret Fox für ihre Séancen Eintritt verlangen. Durch ihre Geschichte erlebt der Geisterglaube ab 1848 einen Boom.
Zeichen aus dem Jenseits
Der Spiritismus verbreitet sich aus den USA, wo er Ende des 19. Jahrhunderts Millionen Anhänger hat, nach Europa. In seinem Zentrum stehen Medien: Menschen, in deren Gegenwart scheinbar übernatürliche Dinge passieren. Sind es Betrüger? Empfangen sie echte Zeichen aus dem Jenseits - oder glauben sie das zumindest selbst?
Der Mediziner und Philosoph Thomas Knoefel lässt diese Fragen offen. Der Autor scheint alles für möglich zu halten. Er praktizierte lange Zeit eine dem Voodoo verwandte Religion und schildert im Prolog eigene Erfahrungen mit dem Übersinnlichen - etwa von seiner Großmutter, die den Tod von Angehörigen im Traum vorausahnte.
Der Okkultismus fasziniert den 1958 geborenen Ost-Berliner schon lange: 2007 hat er eine CD-Box herausgegeben mit Originalaufnahmen von Geister-Geräuschen und Trance-Reden. 2017 erschien ein Fotoband über seine Reise zu einem nigerianischen Voodoo-Priester. Dementsprechend kenntnisreich schreibt Knoefel über magische Phänomene.
Auseinandersetzung mit dem Unbewussten
Seinem "Okkulten Brevier" hätte allerdings eine klarere Struktur gutgetan. Die unterschiedlichen Kapitel setzen zwar Schwerpunkte, Wiederholungen aber häufen sich. So finden sich immer wieder ähnliche Beschreibungen von Séancen. Das ermüdet, genauso wie der blumige Stil des Autors, der in langen Sätzen zu Abschweifungen neigt: vom 19. Jahrhundert zurück zu den Philosophen der Antike und zu den Mystikern des Mittelalters. Dabei setzt das "Okkulte Brevier" viel Wissen voraus. Wer Namen wie Helena Blavatsky oder Aleister Crowley nicht kennt, muss im reichhaltigen Fußnotenverzeichnis am Ende des Buches nachschauen.
Am stärksten ist Thomas Knoefels Buch dort, wo der Autor ganz nah dran ist an den unglaublichen Geschichten seiner Protagonisten: an Hysterikerinnen, die wegen ihrer Halluzinationen - oder sind es Visionen? - von den Irrenärzten des 19. Jahrhunderts in der Pariser Anstalt Salpêtrière mit Stromschlägen gequält werden. Oder wenn er sich in den portugiesischen Autor Fernando Pessoa einfühlt, aus dessen Schriften verschiedene Identitäten - oder Geister? - sprechen.
Fernando Pessoa war einer von vielen Künstlern der Avantgarde, der mit dem Okkulten experimentierte. Dass die Geister-Faszination um 1900 nichts Rückwärtsgewandtes war, sondern durchaus modern in ihrer Auseinandersetzung mit dem Unbewussten – das ist letztendlich der spannende Kern von Thomas Knoefels Buch.