Thomas Lehr: "Schlafende Sonne"

Ein Jahrhundert an einem Tag

Thomas Lehr: "Schlafende Sonne"
Thomas Lehr: "Schlafende Sonne" © imago / blickwinkel / Hanser Verlag
Von Helmut Böttiger |
Thomas Lehrs für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman "Schlafende Sonne" spielt an einem Sommertag in Berlin – und gleichzeitig in einem ganzen Jahrhundert. Figuren, Geschichten, Motive und Bilder werden miteinander zu einem poetischen Raum verknüpft.
Um es vorweg zu sagen: Dieser Roman steht in der Tradition der Moderne. Er knüpft da an, wo James Joyce oder Robert Musil aufgehört haben. Das heißt: Hier geht es nicht nur um die – zweifellos spannende und psychologisch ausgefeilte – Handlung. Es geht mindestens genauso um die Sprache und um die Form. Vor allem der äußere Aufbau des Romans und die Art der Erzählweise haben es in sich.
Im Mittelpunkt steht die Ausstellungseröffnung der bekannten Künstlerin Milena Sonntag im August 2011. Sie ist in Dresden aufgewachsen, als Sohn des legendären Malers Andreas Sonntag, der unverkennbar an den berühmten "Neuen Wilden" A. R. Penck erinnert. Die Dresdner Underground-Szene Ende der Achtzigerjahre spielt eine große Rolle.

Erzählspiralen statt Chronologie

Der Westen kommt dann in Gestalt von Milenas Mann Jonas ins Spiel. Er stammt aus Freiburg und ist Astrophysiker, er forscht vor allem über die Sonne. Und hier kommen die Interessen der beiden zusammen: Physik und Philosophie verbinden sich zu poetischen Fragestellungen. Milena hat sich nämlich, bevor sie sich entschied, Künstlerin zu werden, für Philosophie interessiert. Sie widmete sich in erster Linie Esther Goldmann, die unverkennbar der Husserl-Schülerin Edith Stein nachgebildet ist, und Husserl selbst – der hier einfach nur "Edmond" heißt. Milena und Jonas begegnen sich zufällig bei einem Göttinger Philosophieseminar wieder, nachdem sie schon einmal in einem Nationalpark der USA getroffen haben.

Erzählt wird nicht chronologisch, sondern, wie es Thomas Lehr in seinen beiden Motti nahelegt, in Form einer Spirale. Es gibt im Text viele Drehbewegungen und artistische Wechsel der Perspektiven. Zwischen Jonas, Milena und dem Göttinger Philosophie-Zirkel um Husserl tauchen viele persönliche Beziehungen auf, mit Seitensträngen bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs.
Der Schriftsteller Thomas Lehr bei Deutschlandradio Kultur
Der Schriftsteller Thomas Lehr bei Deutschlandradio Kultur© Deutschlandradio/ Sandra Ketterer

Rauschhafte Erzählschübe und Assoziationsstränge

Figuren und Geschichte werden durch einzelne Motive, Bilder und Assoziationsstränge miteinander verknüpft. Es gibt eindrucksvolle Schilderungen aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, aus dem Antiquariatswesen der Zwanzigerjahre, aber auch aus der Zeit der deutschen Wiedervereinigung 1989. Entscheidend sind aber weniger konkrete Ereignisse als zentrale Motive, die ein Eigenleben bekommen. Der berühmte "David" von Michelangelo in Florenz etwa wird im Jahr 1943, in den frühen Neunzigerjahren und dann wieder weit nach der Jahrtausendwende beschrieben, in verschiedenen Figurenkonstellationen.
Dabei kommt es zu zum Teil rauschhaften Erzählschüben, die von großer Suggestivität sind. Das vielfältige Personengeflecht gibt sich erst langsam im Lauf des Romans zu erkennen und verdichtet sich immer mehr. Zwischen den Figuren, die den Ersten Weltkrieg erleben, und denen, die in der Gegenwart agieren, gibt es subjektiv stark aufgeladene Bindungen. Die Phänomenologie des Philosophen Edmund Husserl bildet dabei für die Ästhetik dieses Romans den Hintergrund. Es geht um Lebenswelten, um die konkrete Verankerung in Details und Atmosphären. So entsteht zwischen den Figuren und Zeiten ein eigener poetischer Raum, der sich im zentralen Bild der "Sonne", des "Lichts" zeigt.

Thomas Lehr: "Schlafende Sonne"
Carl Hanser Verlag, München 2017
637 Seiten, 28 Euro

Mehr zum Thema