"Thomas Mann in der Nuss-Schale"
Im Rahmen der Ehrungen zu Thomas Manns 50. Todestag erstand auch das Literarische Quartett mit Marcel Reich-Ranicki noch einmal auf. Gemeinsam mit Robert Gernhardt, Helmut Karasek und Iris Radisch, die "Tonio Kröger" einen "Thomas Mann in der Nuss-Schale" nannte, wurden drei seiner Erzählungen diskutiert.
Die Wände im großen Ballsaal des Columbia-Hotels leuchten in einem zarten Blau, blendend weiß strahlen die üppigen Stuckarbeiten, schwer hängt ein riesiger Kronleuchter über den schwarzen Sesseln, auf dem die vier Diskutanten Platz genommen haben. Es ist angerichtet.
Marcel Reich-Ranicki: " Wir werden heute nicht über die Romane von Thomas Mann sprechen – nicht, weil wir sie nicht schätzten, das nun nicht, sondern über vier Erzählungen, jeder über eine. Wir sprechen über drei Erzählungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: "Tristan", "Tonio Kröger" und "Tod in Venedig" und eine aus den späten zwanziger Jahren: "Mario und der Zauberer"."
Marcel Reich-Ranicki gemahnt an jenes Foto, das Thomas Mann kurz vor seinem Tod 1955 in Travemünde zeigt, auf der Promenade just vor dem prachtvollen Gebäude, in dem man jetzt über ihn zu sprechen anhebt. Die Rollenverteilung ist die altbekannte: Reich-Ranicki gibt den strengen Lehrer. Die Aufgaben sind verteilt, jetzt wird abgefragt. Iris Radisch darf beginnen:
" Mir gefällt der "Tristan" sehr gut, weil es wirklich das hat, was man über Thomas Mann immer sagt, nämlich: Ironie! Man sagt, er ist der ironische Schriftsteller schlechthin. Ich kann das oft nicht nachvollziehen. Aber hier, finde ich wirklich, ist Ironie! Es ist eigentlich ein Thomas Mann in der Nussschale. Es sind alle Motive, die auch in den großen Romanen später, die auch in den Novellen wieder vorkommen, schon drin."
Damit ist der Grundton der ganzen Veranstaltung schon getroffen: Im Grundsätzlichen ist man sich einig, an der herausragenden Bedeutung des Autors und seines Werkes zweifelt keiner der vier. Die setzen zwar unterschiedliche Akzente, heben diese Einzelheit hervor oder jene. Am Ende aber behält sich Reich-Ranicki stets das letzte Wort vor. Und verbindet in seinem wie gewohnt knappen Urteil das Detail mit dem Grundsätzlichen.
Marcel Reich-Ranicki: " Was ist eigentlich "Tristan" in einem Wort? Eine Liebesgeschichte, eine reine Liebesgeschichte – nur, wie oft bei Thomas Mann: die Liebe wird nicht vollzogen. Und merkwürdigerweise haben wir früher, glaube ich, gar nicht bemerkt: die meisten Werke von Thomas Mann sind Liebesgeschichten. "
Womit er die Diskussion über den "Tristan" für beendet und die über den "Tod in Venedig" für eröffnet erklärt – jener Erzählung, in der der alternde Künstler Aschenbach der Liebe seines Lebens begegnet, einer Liebe, die ihn in den Tod führen wird.
Marcel Reich-Ranicki: " Es geht Aschenbach hinter dem Taddio her – völlig verliebt! Er denkt an die Liebe mit diesem Jungen. Und er nähert sich ihm. Er ist schon so nah, dass er ihm die Hand auf die Schulter legen kann. Das ist der große Augenblick in der Literatur des 20. Jahrhunderts! Er kann die Hand auf die Schulter legen – aber er tut es nicht! Er hat Angst vor einer einzigen Sache: die panische Angst vor der Realität. Das ist ein ganz großes Motiv der Erotik des 20. Jahrhunderts. Und ganz besonders bei Thomas Mann."
Von diesem Punkt aus umkreisen die Diskutanten eine Weile das Thema Erotik im Werk von Thomas Mann, mit Ausflügen auf den "Zauberberg", bevor die vier Kritiker sich der Frage nähern, mit welcher Sprachgewalt Thomas Mann dies alles einzufangen vermochte.
Gernhardt, Karasek, Radisch: " [Gernhardt:] Thomas Mann konnte sehr viele Tonfälle anschlagen und "Mario und der Zauberer" hat einen ganz ganz anderen Tonfall als ...[Karasek:] leicht, ganz ganz leicht, Reisebericht!...[Radisch:] Der "Tristan" ist wieder ganz anders. "Tristan" ist fast lakonisch und hat auch ganz burleske, einfache Elemente. Jede Erzählung ist eigentlich in einer anderen Sprache geschrieben."
Allein Iris Radisch wagt es, die allgemeine Übereinstimmung gelegentlich zu stören. Am deutlichsten, als es um die Erzählung "Tonio Kröger" geht.
Iris Radisch: " Das ist ja wirklich die Lieblingsgeschichte aller Deutschlehrer, weil sich so tolle Tafelbilder damit machen lassen. Auf der einen Seite stehen die Blonden, die Blauäugigen, da steht der Norden, da steht der Kröger, da steht der Vater, da steht der Bürger, da steht das Hanseatische. Und auf der anderen Seite des Tafelbildes, da stehen dann die Braunäugigen, steht der Süden, steht die Mutter, steht der Künstler... Dieses so simple antithetische Schema hat diese Novelle so berühmt gemacht. Sie ist von extremer Übersichtlichkeit. Das verstimmt mich ein bisschen."
Robert Gernhardt fühlt sich geradezu ermuntert, nun seinerseits ein paar kritische Anmerkungen zu machen. Marcel Reich-Ranicki aber schüttelt energisch mit dem Kopf. "Überall habt Ihr etwas zu beanstanden", sagt er. Gerade im Falle von "Tonio Kröger" aber will es ihm ganz und gar nicht einleuchten.
Marcel Reich-Ranicki: " "Tonio Kröger" ist die Keimzelle des Thomas Mannschen Werks. Denn: sie alle sind Tonio-Kröger-Varianten: Detlef Spinell im "Tristan", Aschenbach natürlich, Hans Castorp. Natürlich sind es Varianten, Paraphrasen, das ist klar. Aber er hat damit die erste Figur dieser Art geschaffen."
Und das allerletzte Wort? Es ist das gewohnte, berühmte aus der Feder von Bertolt Brecht, wenngleich es auch in der einsetzenden Schlussmusik ein wenig untergeht.
Marcel Reich-Ranicki: " Wir sehen betroffen – den Vorhang zu und alle Fragen offen."
Marcel Reich-Ranicki: " Wir werden heute nicht über die Romane von Thomas Mann sprechen – nicht, weil wir sie nicht schätzten, das nun nicht, sondern über vier Erzählungen, jeder über eine. Wir sprechen über drei Erzählungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: "Tristan", "Tonio Kröger" und "Tod in Venedig" und eine aus den späten zwanziger Jahren: "Mario und der Zauberer"."
Marcel Reich-Ranicki gemahnt an jenes Foto, das Thomas Mann kurz vor seinem Tod 1955 in Travemünde zeigt, auf der Promenade just vor dem prachtvollen Gebäude, in dem man jetzt über ihn zu sprechen anhebt. Die Rollenverteilung ist die altbekannte: Reich-Ranicki gibt den strengen Lehrer. Die Aufgaben sind verteilt, jetzt wird abgefragt. Iris Radisch darf beginnen:
" Mir gefällt der "Tristan" sehr gut, weil es wirklich das hat, was man über Thomas Mann immer sagt, nämlich: Ironie! Man sagt, er ist der ironische Schriftsteller schlechthin. Ich kann das oft nicht nachvollziehen. Aber hier, finde ich wirklich, ist Ironie! Es ist eigentlich ein Thomas Mann in der Nussschale. Es sind alle Motive, die auch in den großen Romanen später, die auch in den Novellen wieder vorkommen, schon drin."
Damit ist der Grundton der ganzen Veranstaltung schon getroffen: Im Grundsätzlichen ist man sich einig, an der herausragenden Bedeutung des Autors und seines Werkes zweifelt keiner der vier. Die setzen zwar unterschiedliche Akzente, heben diese Einzelheit hervor oder jene. Am Ende aber behält sich Reich-Ranicki stets das letzte Wort vor. Und verbindet in seinem wie gewohnt knappen Urteil das Detail mit dem Grundsätzlichen.
Marcel Reich-Ranicki: " Was ist eigentlich "Tristan" in einem Wort? Eine Liebesgeschichte, eine reine Liebesgeschichte – nur, wie oft bei Thomas Mann: die Liebe wird nicht vollzogen. Und merkwürdigerweise haben wir früher, glaube ich, gar nicht bemerkt: die meisten Werke von Thomas Mann sind Liebesgeschichten. "
Womit er die Diskussion über den "Tristan" für beendet und die über den "Tod in Venedig" für eröffnet erklärt – jener Erzählung, in der der alternde Künstler Aschenbach der Liebe seines Lebens begegnet, einer Liebe, die ihn in den Tod führen wird.
Marcel Reich-Ranicki: " Es geht Aschenbach hinter dem Taddio her – völlig verliebt! Er denkt an die Liebe mit diesem Jungen. Und er nähert sich ihm. Er ist schon so nah, dass er ihm die Hand auf die Schulter legen kann. Das ist der große Augenblick in der Literatur des 20. Jahrhunderts! Er kann die Hand auf die Schulter legen – aber er tut es nicht! Er hat Angst vor einer einzigen Sache: die panische Angst vor der Realität. Das ist ein ganz großes Motiv der Erotik des 20. Jahrhunderts. Und ganz besonders bei Thomas Mann."
Von diesem Punkt aus umkreisen die Diskutanten eine Weile das Thema Erotik im Werk von Thomas Mann, mit Ausflügen auf den "Zauberberg", bevor die vier Kritiker sich der Frage nähern, mit welcher Sprachgewalt Thomas Mann dies alles einzufangen vermochte.
Gernhardt, Karasek, Radisch: " [Gernhardt:] Thomas Mann konnte sehr viele Tonfälle anschlagen und "Mario und der Zauberer" hat einen ganz ganz anderen Tonfall als ...[Karasek:] leicht, ganz ganz leicht, Reisebericht!...[Radisch:] Der "Tristan" ist wieder ganz anders. "Tristan" ist fast lakonisch und hat auch ganz burleske, einfache Elemente. Jede Erzählung ist eigentlich in einer anderen Sprache geschrieben."
Allein Iris Radisch wagt es, die allgemeine Übereinstimmung gelegentlich zu stören. Am deutlichsten, als es um die Erzählung "Tonio Kröger" geht.
Iris Radisch: " Das ist ja wirklich die Lieblingsgeschichte aller Deutschlehrer, weil sich so tolle Tafelbilder damit machen lassen. Auf der einen Seite stehen die Blonden, die Blauäugigen, da steht der Norden, da steht der Kröger, da steht der Vater, da steht der Bürger, da steht das Hanseatische. Und auf der anderen Seite des Tafelbildes, da stehen dann die Braunäugigen, steht der Süden, steht die Mutter, steht der Künstler... Dieses so simple antithetische Schema hat diese Novelle so berühmt gemacht. Sie ist von extremer Übersichtlichkeit. Das verstimmt mich ein bisschen."
Robert Gernhardt fühlt sich geradezu ermuntert, nun seinerseits ein paar kritische Anmerkungen zu machen. Marcel Reich-Ranicki aber schüttelt energisch mit dem Kopf. "Überall habt Ihr etwas zu beanstanden", sagt er. Gerade im Falle von "Tonio Kröger" aber will es ihm ganz und gar nicht einleuchten.
Marcel Reich-Ranicki: " "Tonio Kröger" ist die Keimzelle des Thomas Mannschen Werks. Denn: sie alle sind Tonio-Kröger-Varianten: Detlef Spinell im "Tristan", Aschenbach natürlich, Hans Castorp. Natürlich sind es Varianten, Paraphrasen, das ist klar. Aber er hat damit die erste Figur dieser Art geschaffen."
Und das allerletzte Wort? Es ist das gewohnte, berühmte aus der Feder von Bertolt Brecht, wenngleich es auch in der einsetzenden Schlussmusik ein wenig untergeht.
Marcel Reich-Ranicki: " Wir sehen betroffen – den Vorhang zu und alle Fragen offen."